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Osten, Westen

Osten, Westen

Titel: Osten, Westen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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strategisch platzierte neogotische Beichtstühle gesetzt, um diejenigen zu beraten, die sich seelisch angegriffen fühlen.
    Heutzutage sind die meisten von uns krank.
     
    Priester sind nicht anwesend. Da haben die Auktionatoren die Grenze gezogen. Die Priester verbleiben in anderen, nahe gelegenen Gebäuden – Räumlichkeiten, mit denen sie vertraut sind – und hoffen, mit allen seelischen Ausfällen, mit allen Ausbrüchen von Wahnsinn fertigzuwerden.

    Kolonnen von Geburtshelfern und behelmte Polizisten der SWAT-Teams warten außer Sichtweite in Nebengassen für den Fall, dass die Aufregung zu Frühgeburten oder Todesfällen führt. Listen von nächsten Angehörigen wurden aufgestellt und deren Kontaktnummern vermerkt. Eine Anzahl von Zwangsjacken liegt bereit.
     
    Sehen Sie: Dort, hinter dem schusssicheren Glas, funkeln die roten Schuhe. Die Grenzen ihrer Kraft sind uns nicht bekannt. Wir vermuten, dass es keine Grenzen gibt.
     
    Unter den Bietern befinden sich Filmstars, die ihre strahlende, glitzernde Aura im Auktionssaal präsentieren. Die Halos von Filmstars, in Zusammenarbeit mit Meistern der angewandten Psychologie entwickelt, sind platin-, gold-, silber- oder bronzefarben. Bestimmte Charakterschauspieler, die sich auf Schurkenrollen spezialisiert haben, sind von einer Aura des Bösen umgeben: giftgrün, senfgelb, dunkelrot. Stößt einer von uns mit der unbezahlbar kostbaren (und empfindlichen) Aura eines Stars zusammen, wird er oder sie von den Sicherheitsbeamten sofort zu Boden geworfen und zu den wartenden grünen Minnas hinausbefördert. Derartige Zwischenfälle sind dazu angetan, das Gedränge im Großen Auktionssaal ein wenig zu mindern.
     
    Die Raritäten-Junkies sind in voraussehbarer Stärke aufmarschiert, und eben jetzt presst eine Frau aus ihrer Mitte die sehnsüchtigen Lippen mit einer leichten Neigung des Kopfes auf die durchsichtige Vitrine mit den Schuhen und löst dadurch eines der modernsten Alarmsysteme aus, dessen Programmierer vergessen haben, die relative Harmlosigkeit einer solchen Geste der Verehrung einzuplanen. Also pumpt das System Strom von einhunderttausend Volt in die
collagenimplantierten Lippen der Glasküsserin und setzt ihrem Interesse am weiteren Verlauf der Versteigerung damit ein jähes Ende.
    Es ist ein unangenehmer, übelriechender Augenblick, der einen zweiten aficionado allerdings nicht an einem gleichen selbstmörderischen Akt der Bewunderung zu hindern vermag. Als wir hören, dass dieser Idiot der Liebhaber der ersten Todeskandidatin war, staunen wir über das Mysterium der Liebe, während wir nochmals zu den parfümierten Taschentüchern greifen.
     
    Der Kult um die roten Schuhe befindet sich auf dem Höhepunkt. Ein Kostümfest ist in vollem Gang. Überall Hexen, Löwen, Vogelscheuchen, die erzürnt miteinander um die Plätze streiten und einander auf die Füße treten. Wegen des besonders unbequemen Kostüms gibt es allerdings nur wenige Blechmänner. Hexen vertreiben sich die Zeit auf den Balkons und Emporen des Großen Auktionssaals, lebende Wasserspeier von – in vielen Fällen – hoher Kreditwürdigkeit. Eine Ecke ist ausschließlich von Totos besetzt, von denen einige begeistert kopulieren und damit einen gummibehandschuhten Hausmeister zwingen, die Paare zu trennen, weil man befürchtet, sie könnten in der Öffentlichkeit Anstoß erregen. Er entledigt sich seiner Aufgabe mit erstaunlich viel Delikatesse und Takt.
     
    Wir, die Öffentlichkeit, nehmen sehr schnell und heftig Anstoß. Wir haben es uns angewöhnt, das Anstoßnehmen als ein Grundrecht zu betrachten. Für uns gibt es kaum etwas Wichtigeres als unsere Empörung, die uns, nach unserem Dafürhalten, moralisch über die anderen erhebt. Von diesem erhöhten Standpunkt aus können wir auf unsere Feinde ballern und ihnen schwere Verluste zufügen. Wir sind stolz
auf unsere kurze Zündschnur. Unser Zorn erhebt uns über andere hinaus.
     
    Rings um den – sagen wir mal – Schrein der mit roten Steinen besetzten Schuhe haben sich Pfützen von Speichel gebildet. Es gibt einige unter uns, die der Selbstbeherrschung entbehren und einfach drauflossabbern. Der Latino-Hausmeister in seiner Latzhose drängt sich, Eimer in der einen, Gummischrubber in der anderen Hand, zwischen uns hindurch. Wir bewundern seine Unauffälligkeit und sind dankbar dafür. Er entfernt unsere Mundflüssigkeit vom Boden, ohne dass wir deswegen das Gesicht verlieren.
     
    Die Gelegenheiten zur Begegnung mit dem wahrhaft

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