Ostfriesenblut
Hagemann fest in die Haare von Heinrich Jansen und zerrte ihn hoch, dass sein Rücken sich im Stuhl gerade nach oben bog. Hagemann drückte ihm den Lauf der Waffe gegen die Stirn. »Soll ich ihn erschießen?«, fragte er. »Sagen Sie es mir, Frau Kommissarin. Ihn oder lieber diese dreckige Schlampe da?«
Er ließ Heinrich Jansen los. Der fiel samt Stuhl um, und Ann Kathrin konnte hören, wie sein Oberarm brach, als er mit seinem Gewicht daraufkrachte.
»Nein«, sagte Thomas Hagemann. »Das ist langweilig. Zwischen euch beiden findet es statt, stimmt’s?«
Jetzt drückte er die Mündung gegen die kahlrasierte Kopfhaut von Susanne Möninghoff. Sein Finger krümmte sich um
den Abzug. Er sah aus wie jemand, der ernst machte. Das hier war kein Bluff.
»Entscheiden Sie, Frau Klaasen. Wer soll sterben? Dieser hässliche alte Mann da oder die Schlampe? Oder sind Sie etwa bereit, sich wirklich zu opfern?«
Er hob die Waffe und Ann Kathrin schaute in die Mündung ihrer P 2000 .
»Solche Fragen«, sagte Ann Kathrin, »sind in unserem Rechtssystem unzulässig. Und solche Alternativen auch. Erstens gibt es glücklicherweise keine Todesstrafe mehr, und zweitens kann niemand für einen anderen ins Gefängnis gehen und sich aburteilen lassen. Eine Strafe muss individuell zugedacht werden und die Persönlichkeit des Täters berücksichtigen.« Sie versuchte, den Bogen zu kriegen. »In Ihrem Fall zum Beispiel, Herr Hagemann, wird es sicherlich ein psychologisches Gutachten geben, das Ihre schwere Kindheit und Jugend berücksichtigt … «
Er lachte höhnisch. »Ja, psychologische Gutachten über mich gibt es genug. Wissen Sie, dass ich aus einem schwer dysfunktionalen Familiensystem komme? All diese Gutachten haben niemanden daran gehindert, mich in seine Obhut zu geben.«
Jetzt brach der ganze Hass in ihm durch. Ann Kathrin spürte es von einer Sekunde auf die nächste. Er war jetzt innerlich vollkommen bereit abzudrücken, und es würde in den nächsten Sekunden geschehen. Er knirschte mit den Zähnen, riss die Waffe zur Seite und feuerte auf Heinrich Jansens Kopf.
Blut spritzte gegen die Wand und noch mehrere Sekunden nach dem Knall war jedes Geräusch wie ausgelöscht.
Ann Kathrin nutzte die Chance. Die Waffe war weder auf sie gerichtet noch auf Susanne Möninghoff. Und Thomas Hagemann sah fasziniert auf seinen ehemaligen Peiniger.
Ann Kathrin packte die Hand mit der Pistole und bog sie nach hinten. Thomas Hagemann jaulte auf. Mit ihrem Knie traf sie seine kurze Rippe und nahm ihm die Luft.
»Das war’s«, sagte Ann Kathrin und richtete die Waffe mit beiden Händen auf ihn. »Hände hoch, Gesicht zur Wand. Beine auseinander.«
Er kam ihren Befehlen nicht nach. Er wirkte jetzt auf sie wie eine Raubkatze, die ihren Rücken krümmte.
»Sie werden nicht schießen, Frau Kommissarin. Dazu sind Sie nicht kaputt genug. Typen wie ich schießen. Oder der da. Der große Erzieher. Der würde Sie in Fetzen hauen und in Stücke schneiden. Sie können so was gar nicht. Sie müssten dabei an Ihren Vater denken. Den hat man doch so ähnlich umgebracht, hm? Aus nächster Nähe, in den Kopf.«
Sein Plan ging auf. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Für den Bruchteil einer Sekunde verloren ihre Arme die Spannkraft.
Seine rechte Faust traf ihre Schläfe ansatzlos. Ann Kathrin kippte um.
Sie waren jetzt alle im Haus, und Weller gestand dem fassungslosen Ubbo Heide, was sie ihm bisher verschwiegen hatten. Die Filme. Die versteckten Webcams. All das, was Ann Kathrin so gerne verhindert hätte, wurde jetzt in Ruperts Beisein breitgetreten.
Er machte nicht einen einzigen bissigen Kommentar. Er nickte immer nur, als hätte er sich das sowieso alles schon gedacht.
Charlie Thiekötter kaute auf der Unterlippe herum. Er wusste noch nicht, ob dies der Knick in seiner Karriere werden würde oder nicht. Vielleicht, dachte er, sollten wir alle etwas anderes machen. Wenn Ann Kathrin nicht wiederkommt, sondern hierbei ihr Leben verliert, dann hab ich auch keine Lust mehr.
Er dachte an Fuerteventura, wo ein ehemaliger Kommissar aus Ostfriesland angeblich eine gut laufende Surfschule am Strand errichtet hatte. Irgendetwas anderes musste doch noch auf sie warten als nur dieser menschliche Abschaum und Dreck hier. Vielleicht war Ruperts Art gar nicht so falsch. Indem er
zum Zyniker geworden war, hatte er versucht, sich unverletzlich zu machen. Doch weder Weller noch Charlie Thiekötter oder Ubbo Heide hatten Lust, miese Typen zu werden, nur
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