Ostfriesenblut
bald erholen würden.
Susanne Möninghoff rutschte nah heran. Ann Kathrin musste wieder an das Geräusch denken, mit dem Thomas Hagemann das Klebeband von Susanne Möninghoffs Mund gerissen hatte. Jetzt begriff Ann Kathrin, warum Susannes Stimme sich so komisch anhörte: Es fehlte tatsächlich ein Teil ihrer Oberlippe.
Dann begann Susanne Möninghoff zunächst zaghaft, an dem Teppichklebeband zu nagen, bis sie schließlich hineinbiss und den Kopf von links nach rechts warf wie ein Raubtier, das versucht, so die Beute zu töten. Wie Zahnseide rutschte es zwischen ihre Zahnlücken. Ein Zahn knirschte, aber er brach nicht aus. Stattdessen riss das Klebeband ein.
»Ja! Ja! Wir schaffen es!«, freute sich Ann Kathrin und feuerte Susanne Möninghoff an, jetzt bloß nicht aufzugeben.
Dann waren Ann Kathrins Hände frei. Im selben Moment hörten sie Schritte, die durch eine Pfütze näher kamen.
»Er kommt! Er kommt!«
Ann Kathrin versuchte, sich wieder so hinzusetzen, als ob sie noch gefesselt wäre, doch ihre Beine waren zusammengebunden und erlaubten das nicht. Sie zerrte an dem Klebeband herum. Da leuchtete er ihr mit der Taschenlampe ins Gesicht.
»Ach, wie rührend. Man kann euch beide wirklich keine paar Minuten alleine lassen. Was soll denn das werden? Ich
bin enttäuscht, Frau Kommissarin. Ich hatte Ihnen eine Chance gegeben. Ich wollte, dass Sie das Verbrechen aufklären, das an meiner Person begangen wurde. Sie haben stümperhaft gearbeitet. Gar nicht so, wie von Holger Bloem im
Ostfriesischen Kurier
beschrieben. Sie verstehen überhaupt nichts von den Abgründen der menschlichen Seele. Sie verstehen nicht mal etwas von Ihrem Beruf! Sie haben nicht mal versucht, mich zu begreifen, sonst wären Sie viel früher zur Seniorenresidenz Meeresblume gefahren. Sie interessieren sich nur für sich selbst und Ihr verkorkstes Leben. Was haben Sie vor? Verbrüdern Sie sich hier? Wollen Sie es in Zukunft zu dritt treiben? Sie, Hero und Susanne? Pfui Teufel!«
»Wie sind Sie auf dieses Gebäude gekommen?«, fragte Ann Kathrin, um ihn überhaupt irgendwie zu beschäftigen und auf andere Gedanken zu bringen. »Wie hätte ich das herausfinden können?«
Sie sah ihn an und versuchte, ihm das Gefühl zu geben, dass er jetzt alle Aufmerksamkeit der Welt hatte.
Weller hatte Hunger. Er brauchte dringend Fleisch. Er wollte seine Zähne in ein Kotelett graben oder in ein blutiges Steak. Gleichzeitig wusste er, dass er nichts herunterbekommen würde, bevor sie Ann Kathrin gefunden hatten. Um aus der Schere herauszukommen, Hunger zu haben und doch nichts essen zu können, zündete er sich eine Zigarette an.
Was würde Ann Kathrin tun, dachte er. Was? Auf keinen Fall wollte er später von ihr gefragt werden: Warum hast du das nicht gemacht, Weller? Warum hast du nicht so gehandelt, sondern so? Wie konntest du das nur übersehen?
»Dieses Scheiß-Heim«, sagte Weller, »in dem Thomas Hagemann den erbärmlichen Rest seiner Jugend verbringen musste – wie hat sich das eigentlich finanziert? Mit staatlichen Geldern? Von Spenden? Von … « Er gab sich die Antwort selbst:
»Die Jungs waren doch alle schon im arbeitsfähigen Alter. Die wurden doch garantiert irgendwohin geschickt, wo sie … «
Ubbo Heide wies auf Weller, als sei sein Zeigefinger eine Pistole: »Und das kann nicht weit von diesem Heim weg gewesen sein.«
Weller zitierte wieder die Sätze, die sie dort gefunden hatten: »Das war gut, Frau Kommissarin Klaasen! Aber noch nicht gut genug. Sie haben den Ort des Verbrechens gefunden. – Na klar! Es muss so ein Gebäude ganz in der Nähe geben!«
Ubbo Heide warf den Plan in Ann Kathrins Wohnzimmer auf den Boden. Sie knieten zu viert um die Landkarte von Ostfriesland herum. Ubbo Heide, Frank Weller, Rupert und Charlie Thiekötter.
»Vielleicht hat er sie einfach als Erntehelfer zu den Bauern geschickt. Hier wurden immer Saisonkräfte gebraucht. Oder zu den Krabbenkuttern oder … «
»Eine Ziegelei!«, schrie Weller. »Eine alte Ziegelei! Es gab ein Foto in dem Fotoalbum! Ann Kathrin hat es selbst gesagt: So wurden früher Steine gemacht!«
Ubbo Heide zeigte auf den Punkt Nummer 93 . Es war eins der in Frage kommenden Gebäude. Alt. Leerstehend. Verfallen.
»Falls wir schon genügend Leute auf die Beine gestellt haben, sind dahin gerade ein paar Kollegen unterwegs.«
»Stopp sie«, schlug Weller vor. »Das machen wir selbst. Wir sind nah dran. Das sind keine zweitausend Meter Luftlinie von hier.«
»Ja«, sagte
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