Ostfriesenblut
Betreten der Halle an ihre eigene Vergänglichkeit erinnert werden.«
Natürlich war so etwas noch nie vorgekommen, und Jann Behrens drückte verbindlich-sozialdemokratisch seine Hoffnung aus, dass jetzt nicht jeder Friedhof zu einem Hochsicherheitsbereich werde, so wie ein Flughafen.
Für Weller war dieser Termin hier überflüssig. Die Spusi hatte ihre Arbeit getan. Das alles hier hielt ihn eigentlich nur auf. Er wollte jetzt Ralf Kühlberg verhören, dann mit seiner Frau im Krankenhaus reden und schließlich die ganze Sache dem Haftrichter übergeben.
Die Leichenhalle war leer. Angesichts der Ereignisse hatte man sich rasch entschieden, zwei andere Verstorbene auszuquartieren.
Jann Behrends versprach, noch heute ein Sicherheitsschloss einbauen zu lassen, wie es sie in allen anderen Leichenhallen der Stadt seit Jahren gab.
Weller wollte zurück zum Auto, doch Ann Kathrin ging noch ein bisschen alleine zwischen den Gräbern spazieren. Weller wusste, dass er ihr diesen Raum lassen musste. Sie ließ die Dinge gern auf sich wirken. Am liebsten arbeitete sie eigentlich allein. Sie wäre auch gerne noch alleine in der Wohnung geblieben. Er ahnte, dass sie dorthin zurückkehren würde.
Was lief jetzt in ihrem Kopf ab, fragte er sich.
Sie drehte sich um und sah zur Leichenhalle herüber. Sie versuchte, die Szene vor ihrem inneren Auge zu sehen. Was war hier geschehen? Hatte das einer alleine gemacht? Frau Orthner musste einen längeren Weg bis zum Parkplatz transportiert worden sein. Oder war der Täter etwa hier vorgefahren? Das
Friedhofstor war sicherlich nicht schwerer zu öffnen als das der Leichenhalle.
In Ann Kathrin Klaasen regte sich eine kleine Hoffnung. Vielleicht fand man hier Autospuren, die identisch waren mit denen vor ihrer Haustür. Es hatte ziemlich geregnet. Sie erinnerte sich daran, wie nass sie am Deich geworden war. Vielleicht hatten sie Glück, und auf dem Boden hatte sich das Reifenprofil tief genug eingegraben.
Über ein Grab gebeugt stand ein alter Friedhofsgärtner und lockerte schon viel zu lange die Erde zwischen den Bodendeckern auf.
Ob er was von mir will?, fragte sie sich. Beobachtet er die ganze Szene nur, weil er es spannend findet, oder hat er etwas zu sagen?
Ihrer Erfahrung nach suchten die Täter gerne die Nähe zu Ermittlern. War der Täter im Umfeld des Friedhofs zu suchen? Wellers Trick mit dem Eisstiel war eindrucksvoll, aber wer sagte, dass der Leichenräuber nicht einfach den Schlüssel vom Friedhofsverwalter oder vom Pastor benutzt hatte? Vielleicht ging er hier so selbstverständlich ein und aus, dass es für ihn gefahrlos war, mit dem Wagen vorzufahren und …
Als ob der Mann ihre Blicke im Rücken gespürt hätte, drehte er sein Gesicht jetzt zu ihr. Es war voller alter Narben. Er hatte tiefliegende dunkle Augen und sehr kräftige Augenbrauen. Er trug einen Oberlippenbart, und Ann Kathrin Klaasen hätte wetten können, dass er damit geschickt eine Hasenscharte verbarg.
Er erhob sich und machte Anstalten, ihr die Hand zu geben, tat es dann aber doch nicht, sondern ging noch einen Schritt zurück, weil er so schmutzig war.
Sie lächelte ihn an. Mit einem Lächeln hatte sie schon oft jemanden zum Reden gebracht. Der Mensch hier kam ihr verschüchtert vor, fast ängstlich. Vielleicht hatte er ein Problem mit Frauen oder auch mit der Polizei …
Mit dem Kopf machte er eine kleine Bewegung hin zum Friedhofsverwalter und flüsterte: »Es stimmt nicht, was er sagt.«
»Bitte? Was meinen Sie?«
Der Friedhofsgärtner senkte die Augen, sah auf seine matschigen Schuhe und schlug die Hacken gegeneinander, scheinbar, um sie zu säubern. Aber Ann Kathrin Klaasen verstand, dass er damit so viel Lärm machen wollte, dass sie nicht an der Kapelle gehört werden konnten.
»Er lügt.«
»Wer? Der Friedhofsverwalter?«
Er nickte.
»Wenn Sie mir etwas zu sagen haben, dann können Sie gerne mit ins Präsidium kommen, oder wir unterhalten uns hier. Ich behandle alles vertraulich, was Sie mir sagen. Kommen Sie, wir gehen ein paar Meter zusammen. Sie zeigen mir einfach den Friedhof, okay?«
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Diese Frau verstand ihn. Trotzdem sprach er nicht lauter. Ann Kathrin musste näher an ihn herantreten, als ihr lieb war, um seine Worte wirklich zu verstehen. Er sprach eine Mischung aus ostfriesischem Platt und Hochdeutsch, die es ihr auch nicht gerade leichter machte.
Kopfschüttelnd erzählte er, in den letzten beiden Jahren seien schon zweimal Leute
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