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Ostfriesenblut

Ostfriesenblut

Titel: Ostfriesenblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus-Peter Wolf
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Mutter anrufen. Vermutlich ging es vielen ihrer Kollegen so. Sie sah Abel in der Ecke stehen, das Handy mit einer Hand abschirmend. Er flüsterte, wie mit einer Geliebten. Auch Ubbo Heide hatte plötzlich ein dringendes privates Telefongespräch zu erledigen.
    Es wird wohl für immer ein Geheimnis bleiben, wie viele Mütter und Schwiegermütter, Omis und Tanten an diesem Tag in Ostfriesland wieder von ihren Kindern, Enkelkindern, Nichten und Neffen hörten oder Besuch bekamen. Irgendwie machte dieser Fall jedem, der damit in Kontakt geriet, ein schlechtes Gewissen, sich um einen Angehörigen nicht genügend gekümmert zu haben. Wer wollte schon gern aus der Zeitung vom Tod einer Familienangehörigen erfahren, die gefesselt in ihrer Wohnung verhungerte, weil sich niemand um sie gekümmert hatte?
    Ann Kathrin Klaasens Mutter wusste noch nichts von den ostfriesischen Morden. Der Artikel von Holger Bloem im Kurier über ihre Tochter hing eingerahmt an der Wand über dem Sofa. Sie mochte das Foto von Stromann. Sie konnte den Artikel fast
auswendig und die Art, wie Holger Bloem über ihre Tochter schrieb, gefiel ihr. Ja, das war sie wirklich – ihre Ann. Sie hatte so viel von ihrem Vater, dass die Mutter manchmal erschrak, wenn es ihr im vollen Umfang bewusst wurde. Nein, sie sah zum Glück nicht aus wie er, aber sie war so etwas wie seine weibliche Ausgabe.
    Jetzt, während sie mit Ann Kathrin telefonierte, streichelte Helga Heidrich das Foto von ihrer Tochter an der Wand, das Stromann gemacht hatte. Für sie war er ein Meisterfotograf. Sie besaß mehrere Bildbände von ihm über das Meer und die Küste:
Borkum. Nordseeinsel unter weitem Himmel, Juist. Töwerland – Zauberland und Norden-Norddeich – eine ostfriesische Küstenstadt stellt sich vor
.
    Sie empfand es als Auszeichnung, dass er ihre Tochter fotografiert hatte und nicht irgendwer. Es war wie ein Preis, den sie gewonnen hatte. Und jetzt liebte sie seine Bildbände noch mehr.
    Helga Heidrich kannte ihre Tochter viel besser, als Ann Kathrin dachte. Sie spürte, dass etwas nicht stimmte. Da war ein Beben in ihrer Stimme. Eine Aufregung, die nicht in dieses Gespräch gehörte. So, als hätte sie vom Arzt eine schlimme Diagnose bekommen. Sie wusste, dass Hero ausgezogen war.
    »Was ist, Ann Kathrin? Warum redest du so merkwürdig? Raus mit der Sprache. Ich bin deine Mutter.«
    Ann Kathrin lachte gekünstelt. »Mit mir ist alles in Ordnung«, sagte Ann Kathrin. Ich bin deine Tochter, und ich rufe meine Mutter an. Ich finde das völlig normal.«
    »Was ist los, Ann Kathrin? Fegt gerade ein Tsunami auf die Nordseeküste zu? Willst du mich noch einmal sprechen, bevor hier alles in den Fluten versinkt?«
    »Wie kommst du denn auf einen Tsunami?«
    »Ich lese gerade den
Schwarm
von Frank Schätzing.«
    Ann Kathrin war froh, ein Thema gefunden zu haben, über
das sie unverfänglich mit ihrer Mutter sprechen konnte. »Ich glaube, dass unsere Deiche halten, Ma. Die Ostfriesen verstehen was vom Deichbau.«
    Doch ihre Mutter, noch ganz unter dem Eindruck des Buches, fragte zurück: »Kannst du dir vorstellen, was eine Dreißig-Meter-Tsunami-Welle mit diesem Küstenstreifen macht?«
    »Ja, klar, mit irgendwelchen Monsterwellen werden unsere Deiche garantiert fertig. Allein die vorgelagerten Inseln dienen uns ja als Deichschutz.«
    »Wusstest du, Ann Kathrin, dass in so gewöhnlichen, winderzeugten Brechern schon zwölf Tonnen Druck pro Quadratmeter gemessen worden sind? Aber gegen Tsunamiwellen von gleicher Größe sind das Kleinigkeiten.«
    Ann Kathrin stöhnte. »Mama, bitte.«
    Ihre Mutter liebte das Meer, aber sie fürchtete es auch. Sie sammelte leidenschaftlich Bildbände über die Küste, hatte Bilder von Leuchttürmen und Unterwasseraufnahmen an der Wand, aber eine ebensolche Faszination empfand sie auch bei allen Meeresunglücken und Katastrophenszenarien. Ihr Lieblingsthema in letzter Zeit war die Klimaerwärmung und das Schmelzen der Pole.
    Ann Kathrin konnte sich jetzt keinen Vortrag anhören. Ihre Mutter lebte. Sie war nicht an einen Stuhl gefesselt, und sie hatte in den letzten Tagen auch garantiert genug zu essen und zu trinken bekommen.
    »Ich hätte Lust, mal wieder auf ein Stückchen Kuchen vorbeizukommen, Mama. Was hältst du davon?«
    »Oh, du isst wieder Kuchen? Ist deine Diät vorbei? Wie viel wiegst du denn jetzt? Ich hab in den letzten zwei Wochen zwei Kilo abgenommen. Trennkost, sag ich nur. Man kann essen, so viel man will, es kommt nur darauf an,

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