Ostfriesenblut
natürlich nicht tat. Aber sie gab ordentlich Gas.
Es war ein gutes Gefühl, endlich allein in der Wohnung von Frau Landsknecht zu sein. Es roch immer noch nach Verwesung.
Der Tod schien sich in den Wänden festgeklammert zu haben.
Ganz in Ruhe studierte sie das Buchregal. Nahm jeden einzelnen Band in die Hand, sah nach, ob darin Stempel waren, Unterschriften oder sonstige Hinweise.
Sie fand sieben Angelique-Romane, einige Konsalik-Bücher. Da war kaum etwas, wofür Ann Kathrin sich interessiert hätte. Die alte Struwwelpeter-Ausgabe von 1950 vielleicht. Sie ließ sie kurz durch ihre Finger gleiten. Das war nicht die Art Kinderbücher, die sie mochte. Wie viel Kinderbücher doch über die Zeit aussagten, in der sie entstanden sind, dachte Ann Kathrin. Die Geschichte von Hans-guck-in-die-Luft. Als könne man durch Folter bessere Menschen schaffen.
Noch sah sie keinen Zusammenhang zu dem Fall. Natürlich wusste sie, dass es richtig gewesen wäre, systematisch zu arbeiten. Sich eine Liste aller Bücher zu machen und sie dann zu vergleichen. Doch Systematik war nicht ihre Sache. Sie ließ etwas auf sich wirken, sog es auf, machte es sich zu eigen, ließ es in sich arbeiten und hoffte dann auf die richtige Intuition.
Da war eine Biographie von Heinz Rühmann, ein Bildband über sein Leben, Romane von Luis Trenker. Dann fand Ann Kathrin ein schmales, schmucklos eingebundenes Buch mit Pappeinband. Mehr ein Heftchen als ein Buch. Es sah ein bisschen selbstgemacht aus, als hätte es keinen richtigen Verlag gefunden. Es war ein Buch über Pädagogik. Normalerweise hätte Ann Kathrin diesem Text keine Aufmerksamkeit gewidmet, doch es gab eine Signatur des Autors:
Heinrich Jansen, für Maria Landsknecht mit den besten Wünschen
. Es war eine alte Schrift, mit spitzer Füllfeder hingekratzt.
Was war das für eine Dame, dachte Ann Kathrin. Besuchte sie Autorenlesungen? Oder Volkshochschulkurse über Erziehungsfragen? Oder war dieser Heinrich Jansen nur ein Nachbar, ein Arbeitskollege, ein alter Klassenkamerad?
Sie las im Vorwort einen Satz von J. Sulzer aus dem Buch
»Versuche von der Erziehung und Unterweisung der Kinder«, ( 1748 )
.
»Diese ersten Jahre haben unter anderem auch den Vorteil, dass man da Gewalt und Zwang brauchen kann. Die Kinder vergessen mit den Jahren alles, was ihnen in der ersten Kindheit begegnet ist. Kann man da den Kindern den Willen benehmen, so erinnern sie sich hernach niemals mehr, dass sie einen Willen gehabt haben.«
Ann Kathrin stellte kopfschüttelnd das Buch ins Regal zurück und zog ein anderes über heimische Pflanzen heraus. Es lagen einige getrocknete Blätter darin.
Doch dann durchlief ein Schauer Ann Kathrins Körper. In ihrem Magen wurde es heiß, als sei der Doornkaat erst jetzt angekommen. Sie ging, wie so oft, nicht den Dienstweg, sondern wählte einfach Weller an.
»Können die anderen mithören? Geh mal eben raus. Du, ich hab da einen Verdacht.«
»Einen Verdacht?«
»Hast du das Foto von Frau Orthner?«
»Ja.«
»Kann es sein, dass bei ihr im Regal ein schmales, rotes Büchlein steht?«
»Wie soll das denn heißen?«
»Der Buchrücken hat keinen Aufdruck.«
»Na, du bist gut! Ich kann nicht das ganze Regal sehen. Außerdem, wenn es so schmal ist, dann … «
»Wir müssen sofort jemanden in die Wohnung von Frau Orthner schicken. Ich muss wissen, ob sie auch so ein Buch hat.«
»Sag mir nochmal genau, wonach wir suchen sollen.«
»Ein Heftchen zu Erziehungsfragen.
Konsequenz in der Erziehung
von Heinrich Jansen.«
»Ich rufe die Kollegen in Oldenburg an und informiere dich in ein paar Minuten.«
Er hatte den Ernst der Lage begriffen. Ihm musste sie nichts lang und breit erklären. Er musste auch nicht mehr motiviert werden. Bei ihm brauchte sie keine Überzeugungsarbeit zu leisten. Vielleicht lag es daran, dass er in sie verliebt war. Vielleicht schätzte er auch einfach ihre Kompetenz …
Ann Kathrin kniete auf dem Boden vor dem Buchregal und las sich in Heinrich Jansens Machwerk fest. Das hier war Schwarze Pädagogik in Reinkultur. Ein strenges Regelwerk mit üblen Konsequenzen. Eine Art Leitfaden, Kinder richtig zu bestrafen, mit Härte zu erziehen und ihren Willen zu brechen.
Ihr Handy klingelte schneller, als sie erwartet hatte. Weller hielt sich nicht mit Vorreden auf: »Ja, das Buch steht bei Frau Orthner im Regal, und der Kollege sagt, es sei sogar eine Widmung drin von Herrn Jansen persönlich.«
»Wir haben ihn, Frank! Das ist
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