Ostfriesenblut
das Bild aus den Fotoecken. Sie erkannte die Schrift hinten drauf sofort. Genauso gestochen scharf war die Widmung in dem Büchlein geschrieben.
Da standen die Namen:
Regina Orthner, Erzieherin.
Maria Landsknecht, Köchin.
Edeltraut Stahlmüller. Hauswirtschaft.
Erwin Rottländer. Hausmeister.
Karl Fink. Erzieher.
1975 .
»Grand Hand!«, freute Weller sich. »Du bist ein Genie, Ann. Diesmal werden wir nicht zu spät kommen!« Er gab sofort die Namen an Ubbo Heide durch.
Ann Kathrin blätterte weiter im Album. Es gab auch einige Jahrgangsaufnahmen von den Heimzöglingen. Sie hatten sich alle vor dem Gebäude aufgebaut. Sie hatten gleichmäßig geschorene Köpfe und trugen eine Art einfache graue Uniform mit weißen Hemden darunter.
Die erste Reihe kniete. Rechts außen stand jeweils Heinrich Jansen. Aber die Namen der Kinder hatte Jansen nicht hinten auf die Fotos geschrieben.
»Ich wette, einer von diesen Milchbubis ist der Mörder. Einer hat diese Schwarze Pädagogik nicht verkraftet und ist zum Killer geworden.«
Ann Kathrin zeigte auf ein Bild.
»Was ist das denn?«, fragte Weller.
»Das muss in einer alten Ziegelei sein«, sagte Ann Kathrin. So wurden früher Steine gemacht.«
Weller wollte mit Ann Kathrin das Gebäude verlassen. Er fand, sie hatten genug gearbeitet für heute. Er fühlte sich mies. Er wollte allein mit ihr reden, und er brauchte ein Frühstück.
Abel ging zur Toilette.
Ann Kathrin wollte sich eine Truhe ansehen, die mit einer Tischdecke und einer leeren Blumenvase verziert am Fenster stand. Aber Weller hielt sie ab.
»Was ist, Frank? Wir sind so nah dran, wir … «
Sie sah, dass er kurz davor war zu heulen. Er schluckte: »Das alles fasst mich irgendwie ziemlich an. Ich muss immer an diese Jungs denken. Schwarze Pädagogik ... Ich kannte vorher den Begriff nicht mal. Aber ich bin ähnlich erzogen worden. Von meinem Vater. Strenge. Nur Strenge. Nie eine Ausnahme von
der Regel. Alles musste immer so durchgezogen werden, wie er es bestimmt hatte. Er wollte mich immer nur klein machen.«
Er biss auf seiner Unterlippe herum. Ann Kathrin legte eine Hand auf seinen Unterarm. »Wurdest du geschlagen?«
»Hm.«
»Oft?«
»Fast täglich. Auch für Nichtigkeiten. Ich habe meinen Vater gehasst! Mein Gott, habe ich ihn gehasst, und ich habe ihm oft den Tod gewünscht. Ich war zu feige, ihn umzubringen. Aber ich habe mir oft vorgestellt, wie es wäre, wenn … «
Er machte eine Pause. Seine Augen wirkten auf Ann Kathrin, als ob er Szenen von früher sehen würde. Dann sagte er: »Der Krebs hat ihn geholt, als ich elf war. Ich habe mich jahrelang schuldig gefühlt, weil ich seinen Tod herbeigesehnt hatte.«
Abel kam wieder in den Raum zurück. Er putzte sich die feuchten Hände an der Hose ab.
»Wir gehen frühstücken«, sagte Ann Kathrin zu ihm.
Rupert hielt sie im Flur mit dem Phantombild auf. Es war fertig.
»Er dürfte Anfang vierzig sein, höchstens. Obwohl diese altmodische Frisur nicht zu ihm passt, finde ich. Vielleicht eine Perücke«, vermutete er.
Ann Kathrin Klaasen sah sich das Bild genauer an. Weller guckte nur flüchtig hin. Er wollte einfach nur schnell weg hier. Ruperts Anwesenheit war ihm unangenehm. Er wäre am liebsten ganz alleine gewesen.
»Was ist?«, fragte Rupert. »Beziehungsstress? Geht es schon los?«
Ann Kathrin antwortete darauf nicht. Weller sah auf seine Schuhspitzen.
Ann Kathrin zeigte auf das Phantombild. »Der Bart kann falsch sein. Die Augenfarbe auch. Mit Kontaktlinsen ist das heute keine Kunst mehr.«
»Sie kann sich ohnehin nicht an seine Augenfarbe erinnern. Sie schwankt zwischen Grau, Blau und Grün.«
»Das geht vielen Menschen so. Einige können auch nach zig Ehejahren noch nicht die Augenfarbe ihres Partners benennen.«
Rupert stockte. Offensichtlich fragte er sich gerade nach der Augenfarbe seiner Frau. Hundertprozentig sicher war er sich nicht.
»Aber die krumme Nase ist echt. Sieht aus wie … ein Boxer. Die Narbe an der Wange ist markant. Möglicherweise verbirgt er eine weitere Narbe unter der Haartolle da.«
Ann Kathrin Klaasen und Weller verließen die Seniorenresidenz. Rupert guckte kopfschüttelnd hinter ihnen her. Die hielten sich an den Händen! Als ob sie erst fünfzehn wären, dachte Rupert. Fünfzehn und frisch verliebt.
Sie wollten in Greetsiel zum Hafen, um dort zu frühstücken. Weil die Straßen dorthin aber für den Autoverkehr gesperrt waren, parkten sie auf dem Touristenparkplatz mit Blick auf die
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