Ostfriesenblut
Klaasen?«
Er ließ sich nicht aus dem therapeutischen Konzept bringen und fragte zurück: »Kennst du dieses Gefühl, dass du dein Innerstes offenbarst, und man hört dir nicht zu?«
Treffer. Sie begann sofort zu weinen.
»Mein Vater interessiert sich nur für sein Scheiß-Geschäft, und meine Mutter interessiert sich nur für meinen Vater. Sie bringen mich auch nur hierhin, damit sie sich nicht mit mir
beschäftigen müssen. Da bezahlen sie lieber. Und sie können jedem erzählen, wie viel sie für mich tun! Was bekommen Sie für die Stunde?«
»Das weißt du doch. Achtzig Euro.«
»Sie sollten das Doppelte nehmen! Dann würde es meinen Eltern noch besser gehen!«
»Du hast also das Gefühl, hierhin zu kommen, damit es deinen Eltern besser geht, nicht dir selbst?«
Ob Susanne etwas passiert ist, dachte er. Ein Unfall mit dem Wagen? Aber dann hätte man mich doch aus dem Krankenhaus angerufen. Oder geschieht das nicht, weil wir nicht verheiratet sind? Werde ich nicht informiert, weil ich kein Verwandter bin? Ringt sie vielleicht ein paar hundert Meter Luftlinie von hier entfernt mit dem Tod, und ich …
Er beschloss, gleich in der Ubbo-Emmius-Klinik anzurufen.
Hero Klaasen lief durchs Haus und suchte nach seiner Susanne. Er rief ein paar Mal laut ihren Namen, dann wählte er die Nummer der Ubbo-Emmius-Klinik. Aber dort war Susanne Möninghoff nicht. Es hatte auch keinen Unfall gegeben. Niemand war eingeliefert worden. Es war ein sonniger, ostfriesischer Spätsommermorgen. Ein wundervoller Tag, um Urlaub am Wattenmeer zu machen.
Er rief bei der Norder Polizei an, aber auch dort war weder ein Verkehrsunfall noch sonst ein schlimmer Vorfall bekannt, der Susanne Möninghoffs Verschwinden hätte erklären können.
»Warten Sie einfach ab. Die meisten Frauen kommen zurück. Vermisstenmeldungen nehmen wir eigentlich immer erst nach 24 Stunden auf. Meistens klären sich solche Sachen ganz harmlos auf. Vielleicht hat sie Ihnen gesagt, dass sie zu einem Arzttermin muss, und Sie haben es nur vergessen. Vielleicht ist sie auf die Idee gekommen, sich ein Kleid zu kaufen, oder fährt
zum Geburtstag einer Freundin, den sie fast verschwitzt hätte. Herrjeh, es gibt tausend Möglichkeiten, warum eine erwachsene Frau nicht pünktlich zum Frühstück nach Hause kommt.«
»Ihr Wort in Gottes Ohr«, sagte Hero Klaasen, aber er hatte ein ungutes Gefühl dabei.
Gemeinsam mit seiner zweiten Klientin verließ er das Haus. Er sagte der dritten einfach ab und fuhr nach Norddeich, um die Strecke abzulaufen, die sie normalerweise nahm. Zweimal hatte sie ihn genötigt, mitzukommen. In Momenten größter Verliebtheit und völliger hormoneller Verwirrung hatte er es auch getan. Er wusste, wenn sie Zeit genug hatte, parkte sie in Norddeich-Mole auf dem Parkplatz zwischen Bahnhof und Fähre. Wenn der Parkplatz besetzt war, nahm sie den großen beim Ocean Wave und lief von dort über den Deich zum Hafen.
Auf dem Parkplatz am Hafen fand er ihren blauen Polo. Er war nicht abgeschlossen. Die Tür sah aus, als hätte jemand dagegengetreten, um sie zu schließen. Er registrierte den schmutzigen Abdruck einer Turnschuhsohle und rief erneut in Norden bei der Polizei an.
Noch während er die Nummer wählte, dachte er, vielleicht werde ich bald als hysterischer Idiot dastehen. Aber ich kann doch nicht so tun, als ob das alles ganz normal wäre.
Einerseits hatte er Angst um Susanne, andererseits keimte auch Wut in ihm auf.
Wenn sie jetzt irgendwann lachend zurückkommt und mir erzählt, sie hätte nur ihre Freundin getroffen, dann werde ich ihr meine Gefühle zeigen. Sie soll sehen, dass sie mich verletzt hat. Das kann sie doch nicht mit mir machen! Ich lasse meine Klienten sausen, vermurkse meine Arbeit, mache mir Sorgen, und sie, sie … sitzt irgendwo und isst ein Stück Kuchen? Warum, verdammt, ruft sie mich nicht an?
Er sah einen ersten großen Beziehungsstreit mit ihr auf sich zukommen.
Norddeich war ein friedlicher Urlaubsort an der Nordseeküste. Hier wurden keine Touristen beim Baden vom Weißen Hai attackiert und auch keine Frauen von Parkplätzen entführt. So hatte man bis jetzt gedacht.
Die Polizei glaubte eher an einen Badeunfall. Vielleicht war sie ja nach dem Joggen für eine kleine Abkühlung in die Fluten gestiegen. Manchmal überschätzten Menschen ihre Kräfte, schwammen zu weit raus und bekamen im Wasser einen Herzinfarkt. Aber dann hätten irgendwo am Strand zumindest ihr Jogginganzug und ihre Turnschuhe liegen
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