Ostfriesenblut
Tretboote. Die letzten paar Meter gingen sie zu Fuß, vorbei an Krischans Geschenkeladen, vor dem Kugelwedel baumelten und silberne Spiralen in der Sonne vom Wind bewegt glitzerten, und an einem Fischbrötchenstand, der gerade öffnete.
Weller liebte alle Arten von Hering. Brathering. Bismarckhering. Aber am liebsten aß er Matjes. Er nannte den Matjes Ostfriesensushi.
Aber jetzt wollte er mit Ann Kathrin ins Café Alte Bäckerei Poppinga. Dort hatte er in den guten Zeiten mit seiner Frau Renate und seinen Kindern sonntags manchmal gefrühstückt. Rosinenbrot mit Butter. Dann waren sie Eis schleckend im Hafen spazieren gegangen und hatten die schmucken Schiffe bewundert. Er hatte seinen Kindern Piratengeschichten erzählt, und später kehrten sie immer wieder in die Alte Bäckerei Poppinga zurück. Wenn sie dort einen Tisch ergattern konnten,
was in den Ferienmonaten nachmittags selten genug vorkam, dann aßen sie den köstlichen Kuchen. Kirschkuchen. Apfelstrudel mit Vanillesoße und Eis oder Käsesahne mit Rhabarberstückchen. Oder Mohnkuchen. Er überfraß sich dort regelmäßig.
Renate trank ein Kännchen Ostfriesentee und schwärmte jedes Mal von dem schönen Rosen-Teegeschirr. Er bestellte für sich einen Latte Macchiato. Und nahm sich jedes Mal vor, ihr zu Weihnachten genau so ein Teegeschirr zu schenken. Ein Jahr vor der Trennung hatte er es endlich wahr gemacht. Jetzt trank sie in ihrer neuen Wohnung Tee daraus.
Sie bekamen einen freien Tisch in der sogenannten Wohnstube. Dort war eine alte ostfriesische Schlafstelle, eine Butze, aufgebaut. Darin lag eine Clownspuppe. Auf den ersten Blick wirkte es, als hätte jemand die Puppe durch seinen Besuch aufgeweckt.
Aber für ein intimes Gespräch war es zu voll. Sie nahmen noch eine Nase voll Teeduft mit nach draußen und gingen die Sielstraße entlang bis zum Café im Rettungsschuppen. Hier fanden sie draußen eine ruhige, windstille Ecke.
Weller bestellte sich ein großes Frühstück mit zwei Eiern und ein Kännchen Kaffee, Ann Kathrin ein kleines Frühstück und einen Latte Macchiato. Außerdem brauchte sie ein großes Glas Wasser.
Weller setzte sich mit dem Rücken zu den anderen Gästen. Ann Kathrin interpretierte das als seine Angst, gleich heulen zu müssen, und er wollte nicht, dass andere Gäste es sahen.
In der Mitte des Tisches trafen sich jetzt ihre Hände. Es war, als würden seine Finger versuchen, sich in ihren Händen zu verstecken.
»Meine Kindheit«, sagte er, »war ein einziger Albtraum. Und weißt du, was das Schlimmste ist?«
»Nein.«
»Ich glaube, mein Vater hat mich wirklich geliebt.« Jetzt kamen seine Tränen. »Er glaubte, er müsse mich schlagen und züchtigen, wenn er mich liebt. Ja. Er hat das wirklich geglaubt. Er war auch so einer wie dieser Jansen.«
»Und deine Mutter?«
»Die war anders. Aber er ließ sie genauso wenig hochkommen wie mich. Nach seinem Tod hat sie versucht, vieles wieder gutzumachen. Da war ich dann ihr kleiner Prinz und durfte plötzlich alles … «
Die Kellnerin brachte das Frühstück. Weller köpfte sein Ei, als ob er einem Gefangenen den Hals mit der Guillotine durchtrennen würde.
Ann Kathrins Handy summte. Sie nahm einen Löffel Milchschaum von ihrem Latte Macchiato und schlürfte ihn genüsslich. Dann meldete sie sich: »Ja, Rupert – was ist? Wir frühstücken gerade.«
»Du glaubst nicht, was ich in der Truhe am Fenster gefunden habe!«
»Was denn? Eine Leiche?«
»Nee. Onanie-Tagebücher. Ich schätze, so hundert, vielleicht zweihundert.«
»Was soll das sein?«
»Guck es dir lieber an. Da berichten junge Männer über ihren Kampf gegen die sexuelle Versuchung. Mit welchen Träumen der Teufel sie verleiten will und so. Du glaubst es nicht! Wenn du mich fragst, war dieser Jansen einfach nur ein ganz perverses Schwein!«
Ann Kathrin Klaasen schluckte schwer. Ihr Herz raste. »Sind Namen in den Tagebüchern?«
»Klar. In jedem.«
Sie stand auf. »Dann haben wir nicht nur ein Phantombild, sondern auch seinen Namen.«
»Du meinst, einer von denen … «
»Natürlich. Alles passt zusammen. Wir kommen.«
Weller sah bedrückt aus. Jetzt öffnete er sich gerade mal in einem für ihn ungewöhnlichen Ausmaß, sprach über alte Verletzungen, und schon beendete ein Anruf von Rupert das Gespräch. Ausgerechnet. Er zeigte auf sein Frühstück: »Ja … ich … ähm … «
Ann Kathrin steckte sich ein trockenes Brötchen ein und nahm im Stehen einen Schluck Latte Macchiato. Sie winkte der
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