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Ostfriesenblut

Ostfriesenblut

Titel: Ostfriesenblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus-Peter Wolf
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selbst.
     
    Nein, Ann Kathrin Klaasen fuhr nicht direkt zurück in den Distelkamp. Sie brauchte erst ein paar Minuten ganz für sich. Und sie hatte mörderischen Hunger.
    Im NDR wurde für die Nacht eine Sturmflut angekündigt. Die Touristen nahmen das nicht ernst, denn es sah überhaupt nicht nach einem Unwetter aus, sondern eher so, als könne man heute Abend draußen grillen und einen lauen Sommerabend genießen.
    Der Himmel war so blau über Ostfriesland, als ob er einer anderen Wirklichkeit entsprungen wäre. Die wenigen weißen Wolken trieb der Wind vor sich her und verjagte sie in Richtung Hannover.
    Ann Kathrin brauchte jetzt die Weite. Und etwas zu essen. Sie wollte nach Nessmersiel zu Aggis Huus. Dieser Ort hatte ihr bisher immer gutgetan.
    Sie lief über den Parkplatz und dann den asphaltierten Deich hoch, doch als sie oben ankam, wurde sie durch einen mannshohen Zaun aufgehalten. Sie konnte von hier aus die kleine Insel Baltrum sehen, die Nordsee und den Strand. Nur, sie konnte nicht hin. Dieser Zaun war neu, und Ann Kathrin ärgerte sich. Das Meer sollte frei zugänglich sein für alle Besucher.
    Dort hinten, hinter dem Restaurant, gab es jetzt einen Eingang, da wurde kassiert. Wahrscheinlich war das ein Scherz der Kurverwaltung Dornum. Aber Ann Kathrin war heute nicht nach Eintrittskarten zumute.
    Sie hatte gelernt, Hindernisse zu überwinden. Dieser Zaun hier war nur ein Witz für sie. Ein Rentnerehepaar sah ihr aus dem Auto heraus zu. Sie wollten gerade wegfahren. Der Mann rief hinter Ann Kathrin her: »Sie machen das richtig, junge Frau! Wir kommen schon seit fünfzehn Jahren hierher, aber wenn das so ist, dann fahren wir in Zukunft lieber nach Holland, da haben sie noch keinen Zaun ums Meer gebaut!«
    Ann Kathrin antwortete nicht. Sie war zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
    Als sie den Zaun überwunden hatte, rannte sie zunächst bis zum Strand. Sie musste sich nicht umsehen. Sie war hier jetzt ganz alleine. Der Wind hatte nochmal zugelegt. Sie spürte ihn auf der Haut, und das tat ihr gut.
    Sie ging am Meer in die Knie und drückte ihre Hände in den Schlick. Sie wühlte die Hände immer tiefer hinein. Eine scharfkantige Muschel schnitt in ihre Finger, doch das störte sie nicht weiter. Es war, als würde dadurch neue Lebenswirklichkeit in sie zurückkehren.
    Sie wollte sich noch weiter hineinbohren ins Watt. Schon verschwanden ihre Ellbogen. Ihr Gesicht war jetzt ganz nah über
dem lebendigen Meeresboden. Die kleinen spaghettiähnlichen Wattwurmhäufchen berührten jetzt fast ihre Nasenspitze. Sie konnte das Meer riechen. Dann drückte sie ihr Gesicht in den Schlick.
    Der salzige Meeresboden berührte ihre Lippen. Sie pustete alle Luft aus sich heraus. Es blubberte und platschte um sie herum, und etwas in ihr wurde heil.
    Als sie sich aufrichtete, stand sie mit ihrem matschigen Gesicht und ihren tropfenden Armen am Meer.
    Ihre Turnschuhe waren durchnässt, und auch ihre Knie waren feucht.
    Dann schrie sie aus Leibeskräften. Sie brüllte das Universum an. Sie formulierte keine Sätze oder Worte, es waren nur tierische Laute, doch das alles stieg aus der Tiefe ihrer Seele hoch, als hätte es in ihrem Magen gelegen wie Jahrtausende altes Gletschereis.
    Die Möwen bekamen komischerweise keine Angst, sondern suchten Ann Kathrins Nähe, hielten aber noch gebührenden Abstand, um fliehen zu können, falls sie einen Ausfallschritt in ihre Richtung machte.
    Sie überlegte, ob sie so, wie sie jetzt aussah, dort herausmarschieren sollte, wo die Besucher Eintritt zahlen sollten. Für einen Moment stellte sie sich das irgendwie erhaben vor. Überlegen. So voll mit Matsch und Meeresboden, einfach lachend, mit einem freundlichen Dankeschön, diesen Platz zu verlassen. Sie sah hinter sich in einiger Entfernung die Strandkörbe und entschied sich dagegen. Sie wollte sich mit niemandem anlegen. Nicht mit den letzten Urlaubern und erst recht nicht mit einem Kassierer von der Kurverwaltung. Immerhin war sie Hauptkommissarin in Aurich, und was sie hier machte, war nicht ganz legal.
    Sie ging über die Salzwiesen hin zu einer tieferen Stelle, wo die Wellen die Steinmauer berührten. Dort wusch sie sich. Sie ließ das Meerwasser auf ihrer Haut von Sonne und Wind trocknen.
    Dann sprang sie am Zaun hoch, kletterte erneut hinüber und ging langsam, mit geradezu würdevollen Schritten, zu Aggis Huus zurück. Als sie ankam, war sie bereits trocken. Eine feine Salzschicht lag auf ihren Unterarmen und fühlte sich im

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