OstfriesenKiller
der Weg der beiden aus Aurich. Wahrscheinlich hatten sie die Entscheidung erst angesichts der Leiche gefällt.
Vorsichtig betrat Ann Kathrin das Haus.
Direkt im Eingangsbereich des Hauses lag Wäsche auf dem Boden. Ein großer BH fiel Ann Kathrin auf. Dann Männershorts.
Innen war es eine typische IKEA -Wohnung. Nicht arm, nicht reich, geschmackvoll zusammengewürfelt. Viele Bücher, ein paar selbstgemalte Aquarelle an den Wänden.
Rupert stand an der Tür wie ein Securitymann, der aufpassen musste, dass niemand ohne Backstagekarten den VIP -Bereich betrat.
Der Raum war groß. Sitzmöbel trennten den Arbeitsbereich vom Wohnzimmer ab. Ein großer Schreibtisch neben Regalen mit Akten. Trotzdem wirkte es nicht wie ein öder Büroraum, denn die Rücken der Akten waren mit einem Bild von der Nordsee bei Flut und klarem Wetter beklebt. Es war wie ein Puzzle. Das Bild ging von Akte zu Akte weiter. Eine Weitwinkelaufnahme. Zwischen den Buchstaben E und L konnte man Juist sehen. Die Insel erstreckte sich über drei Aktenordner und acht Buchstaben.
Das alles hier war mit viel Liebe selbst gemacht und zusammengeschraubt. In dieser Wohnung hatte sich jemand sehr wohl gefühlt.
Weller stand am Fenster. Er sah sich einige Glasscherben an, die in der Blumenvase lagen. Auf die langstieligen Blätter hatten sich staubfeine Glassplitter gelegt wie eine dünne Schicht frisch gefallener Schnee. Erst jetzt drehte er sich zu Ann Kathrin Klaasen um und sagte: »Tut mir leid, dass wir deinen Urlaub unterbrechen mussten, aber du siehst ja …«
Sie winkte ab und ging gar nicht darauf ein. Angesichts der Leiche fiel ihre private Situation von ihr ab. Sie war jetzt ganz die Frau Hauptkommissarin. Sie wunderte sich, wie schnell das gehen konnte. Ein Mord hatte Priorität. Ganz klar.
Erst jetzt sah Weller seiner Kollegin richtig ins Gesicht. »Was ist denn mit dir? Das ist doch nicht deine erste Leiche.«
Ann Kathrin Klaasen schüttelte den Kopf. »Mir … ich hab heute noch nicht viel gegessen.«
Er glaubte ihr nicht ganz. Sie konnte tagelang hungern, ohne so auszusehen. Er kannte das. Sie nannte es »Heilfasten«. Er »Schlankheitswahnsinn«.
»Privater Stress?«
Ann Kathrin Klaasen fand nicht, dass ihm so eine Frage zustand. Auf keinen Fall würde sie ihm von ihrer gescheiterten Ehe erzählen.
Sie schaute auf ihre Uhr. Es war 22.30 Uhr. Seit 16 Uhr hatte sie eigentlich Urlaub. »Bringen wir es hinter uns, Kollegen.«
Rupert nickte.
Sie fuhr fort: »Was wissen wir?«
Die Frage tat Rupert gut. Er brauchte in solchen Fällen Sachlichkeit.
Ann Kathrin Klaasen sah sich die Leiche an, während Weller sprach. Der Tote wirkte so, wie er auf dem Küchenboden lag, auf eine beunruhigende Art friedlich. Seine Augen waren halb geöffnet. Es war keine Angst darin zu sehen. Dieser Mann war ohne Argwohn gestorben. Die Kugel hatte seinem Leben so schnell ein Ende gesetzt, dass das Gehirn nicht in der Lage gewesen war zu begreifen, was geschah.
»Der Schütze muss hinter dem Haus gestanden haben. Die Kugel hat zunächst die Fensterscheibe hier durchschlagen und dann Herrn Speicher in den Kopf getroffen. Das ist der Besitzer des Hauses. Ulf Speicher.«
»
Der
Ulf Speicher?«, fragte Ann Kathrin.
Weller nickte. »Ja.
Der
Ulf Speicher.«
Ann Kathrin hatte schon oft Fotos von diesem Mann in der Zeitung gesehen, allerdings war er da nicht nackt gewesen, und natürlich hatte er auch kein Loch in der Stirn gehabt
Sie war ihm nie persönlich begegnet, hatte aber zweimal für seine Organisation gespendet. Einmal die gesamten Einnahmen der Weihnachtsfeier, auf einstimmigen Beschluss der Kollegen, ein zweites Mal, um Arbeitsplätze für Behinderte in Ostfriesland zu schaffen.
Es standen zwei Weingläser auf dem Tisch, und aus der Gesamtsituation folgerte Ann Kathrin, dass er nicht allein gewesen war.
»Alexa Guhl hat uns gerufen.«
»Seine Lebensgefährtin?«
Weller schüttelte den Kopf. »Wohl kaum. Das hier sieht«, er räusperte sich, »eher nach einem gewalttätig unterbrochenen One-Night-Stand aus. Sie ist nebenan im Wohnzimmer. Die Frau steht unter Schock. Sie kriegt gerade ein Beruhigungsmittel.«
Rupert beugte sich über Ulf Speicher. »Der hat Lippenstift am Schwanz. Oder glaubt ihr, das hier sind Blutspuren?«
Ann Kathrin drehte sich abrupt um und ging ins Wohnzimmer.
»Was ist?«, fragte Rupert. »Hab ich wieder was Falsches gesagt?«
Weller zuckte mit den Schultern. »Du weißt doch, wie sie ist.«
Ann Kathrin Klaasen
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