Ostseeblut - Almstädt, E: Ostseeblut
kann ich mir jedenfalls nicht vorstellen.«
»Trotzdem müssen wir dem nachgehen«, sagte Pia und machte sich eine Notiz. »Erzählen Sie bitte weiter.«
»Ich war mit meinem Lauf zuerst an der Reihe. Beim Warmlaufen bin ich im Wald in ein Loch, einen Kaninchenbau oder so, getreten und umgeknickt. Erst dachte ich, es tut nicht so weh, aber als ich wieder am Startplatz ankam, wurde es schlimmer. Timo hat mich humpeln sehen und kam zu mir herüber. Als klar war, dass ich nicht starten kann, beschlossen wir spontan, dass er die Strecke für mich läuft. Ich hoffte insgeheim, dass er dann auf die lange Bahn verzichtet. Er nahm meine Startnummer und meine Karte, und dann musste er auch schon los. Wenn er nicht zu dem Zeitpunkt gelaufen wäre …« Sie schlug die Arme um ihren Körper, das Gesicht starr und blass.
»Weshalb entschloss sich Ihr Mann dazu, an Ihrer Stelle zu laufen?«, fragte Pia.
»Das ist meine Schuld …«, sagte Katja Simon. »Ich habe ihn angestachelt. Ich sagte Timo, Gunnar, ein anderer Läufer, hätte auf der kurzen Strecke eine wahnsinnig gute Zeit vorgelegt. Zwischen Gunnar und Timo bestand eine Art Konkurrenzkampf. Timo wollte Gunnars Zeit natürlich unterbieten …«
»Er lief also mit Ihrer Startnummer? Wie sah das aus?«
»Die Nummer hängt man sich nur über. Er bekam auch meine Karte vom Gelände. Das war bei einem Trainingslauf überhaupt kein Problem.«
»Woher weiß man, welcher Läufer mit welcher Nummer startet?«, fragte Pia. Sie sah, wie sich die Hände der Frau ineinander verkrampften.
Katja Simon sagte leise: »Ich weiß, was Sie jetzt denken, aber Sie irren sich. Die Schüsse galten weder mir noch Timo. Niemand Bestimmtem. Timo war nur zur falschen Zeit am falschen Ort.«
»Wieso denken Sie das?«
»Alles andere ergibt keinen Sinn.«
»Was ist mit den Startnummern?«, wiederholte Pia.
»Sie stehen auf der Startliste. Die hängt immer irgendwo aus.«
»Was für eine Kleidung haben Sie beide beim Lauf getragen?«, wollte Pia wissen.
»Unsere Trainingsanzüge in den Vereinsfarben: Blau und Orange mit etwas Weiß.«
»Wir müssen alles in Betracht ziehen«, erklärte Pia mit ruhiger Stimme. »Auch eine Verwechslung. Gibt es jemanden, der Ihnen oder Ihrem Mann schaden will? Haben Sie Feinde?«
»Nein, wir haben keine Feinde, weder mein Mann noch ich«, antwortete Katja Simon fast etwas zu schnell.
»Manchmal sind es Vorkommnisse, die einem selbst trivial erscheinen. Es könnte auch mit Ihrer Praxis zu tun haben: mit einem Angestellten oder einem Patienten.«
»Auf gar keinen Fall!«, sagte Katja entschieden.
Pia war irritiert. Sie hatte erwartet, dass jemand, der in Betracht ziehen muss, knapp einem Mordanschlag entgangen zu sein, ein Interesse daran hat, jeder Möglichkeit nachzugehen.
Katja schien ihre Verwunderung zu spüren. »Timo war beliebt«, sagte sie mit fester Stimme. »Die Menschen mochten ihn. Seine Freunde, seine Patienten, seine Kollegen, die Frauen … die sowieso! Sein einziger Fehler war, dass er fast perfekt war.«
Klang da ein Anflug von Neid durch?
»Auch große Anziehungskraft, zum Beispiel auf das andere Geschlecht, könnte ein Mordmotiv sein. Eine Liebe, die er nicht erwidert hat, bis sie in Hass umgeschlagen ist. Ein eifersüchtiger Freund oder Ehemann …«, hörte Pia ihren Kollegen Maiwald dozieren.
»Wenn Sie in diese Richtung ermitteln, verschwenden Sie Ihre Zeit.« Katjas Tonfall war fast zu überzeugend, um glaubhaft zu sein.
»Ihnen ist klar, dass wir auch mit anderen Leuten darüber reden werden? Zum Beispiel in Ihrer Praxis«, fragte Maiwald herausfordernd.
»Das ist mir klar.« Katja Simon rückte ein Stück vom Tisch ab, ging in Abwehrstellung.
»Haben Sie vielleicht irgendwelche Feinde, Frau Simon«, wiederholte Pia. Der Umstand, dass es sich bei der Tat um eine Verwechslung handeln könnte, schien noch nicht richtig zu Katja Simon vorgedrungen zu sein. »Sie haben in etwa die gleiche Größe und Statur wie Ihr Mann. Kurzes dunkles Haar, dieselbe Startnummer und Ihre Laufzeit …«
»Ich weiß niemanden, Frau Korittki. Mir stehen nur wenige Menschen so nahe, dass Emotionen ins Spiel kommen. Ich ziehe es vor, einen gewissen Abstand zu halten.«
»Und die Freundin, die eben noch hier war?«
»Solveigh?«
»Kennen Sie einander schon lange?«
»Seit unserer Schulzeit. Sie wohnt jetzt in Lübeck. Wir sehen uns nicht sehr oft. Ich … rege mich immer auf, wenn ich sie länger um mich habe.«
»Weshalb?«
Katja Simon seufzte.
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