Ostseefluch
wässrigen Augen. Juliane beachtete er nicht weiter. »Irgendwas in der Art musste ja passieren. Ich hab’s gewusst! Es liegt an diesem Ort. An dem Fluch. Wir haben versucht, das Kind zu schützen. Aber der Schutzzauber war zu schwach.«
Er hob zu einer wirren Erklärung an, die den Schluss nahelegte, dass er und seine Begleiterinnen das Amulett hergestellt und unter Zoes Kopfkissen deponiert hatten. Wann das passiert war, ob vor oder nach der Séance, darüber wollte er sich nicht auslassen.
»Worin genau besteht die Bedrohung, vor der Sie Zoe schützen wollten?«, hakte Pia nach.
»Es ist ein Geist, der sich noch in der Zwischenwelt befindet«, dozierte Aleister. »Vielleicht will er was Unerledigtes zu Ende bringen, vielleicht Kontakt aufnehmen, oder er foppt uns nur.«
»Ein Geist, der uns foppt, hat ein Kind entführt?« Pia schwoll allmählich der Hals.
»Der Entführer ist schon menschlich. Entgegen anders lautenden Vermutungen ist der Einfluss der Geisterwelt auf uns immer nur indirekt. Nicht direkt. Sie brauchen einen Menschen, den sie für ihre Zwecke einsetzen.«
»Und wer ist das Ihrer Meinung nach?«
Aleister zuckte bedauernd mit den Schultern.
»Wie finden wir das Kind?« Pia beugte sich ein Stück vor. Sie ignorierte den Geruch nach Schweiß und Knoblauch, der von Aleister ausging.
»Indem Sie sie suchen.«
»Wo ist Zoe Seibel?« Pia wurde wieder lauter. Juliane sah sie überrascht von der Seite an.
»Ich muss ins Haus, wenn ich euch mehr sagen soll.«
»Wozu? Ist das Kind irgendwo im Haus?«, mischte sich Juliane ein.
»Nein. Aber ich könnte versuchen, den Fluch mit einem Schutzzauber zu bannen.«
»Nein«, sagte Pia energisch.
»Lassen Sie mich im Haus nachschauen! Das Haus kennt die Lösung.«
Juliane stöhnte leise auf.
»Dort laufen alle Fäden zusammen«, beharrte Aleister, ohne sie zu beachten. Er fixierte wieder Pia.
»Ich höre mir das nicht länger an«, sagte diese und erhob sich. Bei der ruckartigen Bewegung stieß sie sich den Oberschenkel an der Ecke der Tischplatte. Allein die Vorstellung, Felix wäre verschwunden und jemand würde so einen Blödsinn erzählen ... Sie sah Juliane an. »Meinetwegen kann er im Haus rumlaufen und mit den Geistern sprechen. Aber er soll Irma Seibel und Klaasen nicht unter die Augen kommen. Und vor allem soll er uns nicht unsere kostbare Zeit stehlen.«
»Wie soll denn das gehen?«, protestierte Juliane. Irmas Reaktion vorhin schien ihr Respekt eingeflößt zu haben.
»Warten Sie einen Moment hier drinnen«, sagte Pia zu Aleister und zog Juliane mit sich nach draußen. »Kann er überhaupt etwas mit Zoes Verschwinden zu tun haben?«, fragte sie ihre Kollegin, als sie neben dem Bus standen. Ein Schwarm Gewitterfliegen umschwirrte die beiden Frauen. Pia wedelte ungeduldig mit der Hand, um sie daran zu hindern, sich auf ihrem schweißnassen Gesicht niederzulassen. »Oder hat er ein Alibi?«
»Bedauerlicherweise hat er eines, ja«, antwortete Juliane. »Ein glaubwürdiges sogar. Frank Albrecht war heute Morgen beim Zahnarzt. Er kann das Mädchen unmöglich selbst entführt haben.«
»Ich sag jetzt nicht ›verflucht noch mal‹!«, stieß Pia hervor. Sie sah zum Haus hinüber, das unter der dicken grauen Wolke, die sich am Himmel aufgetürmt hatte, noch weniger einladend aussah als gewöhnlich.
Juliane blickte auf eine Stelle über Pias Schulter. »Ich glaube, da kommen unsere Taucher«, sagte sie. »Wird aber auch Zeit.«
Zwei weitere Fahrzeuge bogen auf die Zufahrt von Mordkuhlen ein. Pia dachte an die stillen, dunklen Gewässer, die die Männer würden absuchen müssen, und schauderte. »Ich meine, Aleister sollte ruhig ins Haus gelassen werden, Juliane. Aber nur unter Aufsicht.«
»Tolle Hilfe«, murmelte die Kollegin und kletterte wieder in den Bus.
29. Kapitel
P ia wartete ab, bis Gabler sein Telefonat beendet hatte. Als er sich zu ihr umdrehte, bemerkte sie, wie grau er im Gesicht war, und erschrak.
»Das drohende Gewitter macht uns einen Strich durch die Rechnung«, sagte er. »Die Taucher können nicht arbeiten. Und für die Suchmannschaft wird es auch nicht einfacher.« Er sah Pia in die Augen. »Das Kind wird jetzt seit neun Stunden vermisst.«
»Es ist noch nicht mal Abend.« Pia blickte nach draußen, wo die Gewitterwolken den Himmel verdunkelt hatten. Über dem Tisch, an dem Gabler stand, brannte eine Lampe. Der Lichtkegel der Vierzig-Watt-Birne ließ den Rest des Raumes noch düsterer wirken. »Noch besteht eine gute
Weitere Kostenlose Bücher