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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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er, deshalb war es nicht geraten, sie in die Defensive zu drängen. »Ich möchte schlicht und einfach wissen, wie wir jemanden verlieren können, den wir selbst in das System eingeschleust haben«, sagte er schließlich. »Wie kann es sein, daß er einfach ›verschwunden‹ ist? Wir haben doch seinen Körper, allmächtiger Gott!« Er runzelte die Stirn über diese unbeabsichtigte Selbstironie und kreuzte die Arme über der bandagierten Brust.
    Ptahs gelbes Gesicht legte sich in Lachfalten; als typischer Amerikaner hatte er keinen Respekt vor Autorität und fand Osiris’ VR-Habitat zweifellos affektiert. »Ja, seinen Körper haben wir ohne Frage, und wenn das alles wäre, worauf es ankommt, könnten wir ihn jederzeit eliminieren. Aber du warst derjenige, der diesen speziellen Zusatz wollte, obwohl ich nie begriffen habe, warum. Wir bewegen uns hier auf unbekanntem Gelände, zumal mit den ganzen Variablen, die durch unsere eigenen Experimente dazugekommen sind. Das ist, als wollte man erwarten, daß irgendwelche Dinge sich im Weltraum genauso verhalten wie unten auf der Erde. Es kommt mir verdammt unfair vor, meinen Leuten die Schuld zu geben, wenn dabei was in die Hose geht.«
    »Dieser Mann ist nicht bloß aus einer Laune heraus am Leben gelassen worden. Ich habe gute Gründe, auch wenn sie privat sind.« Osiris sprach so fest und ruhig, wie er konnte. Er wollte nicht launisch erscheinen, schon gar nicht in der Auseinandersetzung mit Ptah. Wenn einer dafür in Frage kam, ihm eines Tages die Führungsrolle streitig zu machen, dann war es der Amerikaner. »Auf jeden Fall ist es bedauerlich. Wir nähern uns dem kritischen Punkt, und Re läßt sich nicht mehr viel länger hinhalten.«
    »Heiliger Bimbam!« Der falkenköpfige Horus schlug mit der Faust auf den Basalttisch. »Re? Wovon zum Teufel redest du jetzt schon wieder?«
    Osiris starrte ihn an. Die schwarzen, emotionslosen Vogelaugen starrten zurück. Auch ein Amerikaner, natürlich. Es war, als hätte man es mit Kindern zu tun – auch wenn diese Kinder sehr mächtig waren. »Du befindest dich in meinem Haus«, sagte er mit größtmöglicher Ruhe. »Ein bißchen Respekt, oder wenigstens Höflichkeit, würde dir nicht schaden.« Er ließ den Satz einen Moment in der Luft hängen, um den anderen Mitgliedern der Bruderschaft reichlich Zeit zu geben, darüber nachzudenken, was Horus vielleicht schaden könnte, zu was ein zürnender Osiris alles imstande wäre. »Wenn du die vorgelegten Informationen zur Kenntnis nehmen wolltest, würdest du wissen, daß ›Re‹ mein Name für die Endphase des Gralsprojektes ist. Wenn du zu beschäftigt bist, wird mein System sie dir gern übersetzen, damit du während der Sitzungen den Gesprächsfluß nicht aufhältst.«
    »Ich bin nicht hier, um Spielchen zu machen.« Der rüde Ton des vogelköpfigen Gottes hatte sich ein wenig gemildert. Horus kratzte sich heftig an der Brust, so daß Osiris sich vor Ekel förmlich wand. »Du führst den Vorsitz, also benutzen wir deine Spielsachen, tragen deine Sims und so weiter – gut und schön. Aber ich bin ein vielbeschäftigter Mann und habe keine Zeit, jedesmal, wenn ich mich einschalte, erst noch deine neuesten Spielregeln runterzuladen.«
    »Schluß mit dem Gezanke.« Im Gegensatz zu den anderen schien sich Sachmet in ihrer Verkleidung als Göttin recht wohl zu fühlen. Osiris hatte den Eindruck, es würde ihr Spaß machen, das Löwenhaupt auch im richtigen Leben aufzuhaben. Sie war die geborene Göttin: Keine zersetzenden Vorstellungen von Demokratie hatten je ihre Sicht der Dinge getrübt. »Sollen wir dieses Problem eliminieren, diesen ›verlorengegangenen Mann‹? Was wünscht unser Vorsitzender?«
    »Vielen Dank für die Frage.« Osiris lehnte sich auf seinem hohen Stuhl zurück. »Aus ganz persönlichen Gründen möchte ich, daß er gefunden wird. Wenn darüber zu viel Zeit vergehen sollte, werde ich ihn zur Tötung freigeben, aber das wäre eine grobschlächtige Lösung.«
    »Es wäre nicht nur grobschlächtig«, warf Ptah süffisant ein, »sondern möglicherweise überhaupt keine Lösung. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt dürften wir gar nicht in der Lage sein, ihn zu töten – jedenfalls nicht den Teil von ihm, der sich im System aufhält.«
    Eine schlanke Hand ging in die Höhe. Die anderen merkten auf, denn es kam selten vor, daß Thot etwas zu sagen hatte. »So weit ist es doch wohl noch nicht gekommen«, bemerkte er. Sein schmaler Ibiskopf nickte sorgenvoll, so daß der

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