Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Hand über Hand an der Reling entlang und riß an einem großen Metallgriff an der Rückseite der Kajüte. Alle Laternen des Schiffes, am Bug, an den Segeltuchtragflächen und am Rumpf, gingen mit einem Schlag aus. Das Luftschiff setzte seinen Sturzflug fort.
Plötzlich tauchte an einer Seite des Schiffes eine Turmspitze auf und schoß förmlich an ihnen vorbei. Eine zweite stach auf Pauls Seite so dicht hinter dem Geländer in die Höhe, daß er meinte, sie berühren zu können. Eine dritte kam neben der ersten hoch. Entsetzt blickte Paul durch die geschnitzte Reling. Das Schiff raste auf einen ganzen Wald von nadelscharfen Minaretten zu.
»Mein Gott!« Paul riß Gally an sich, obwohl er wußte, daß er nichts tun konnte, um den Jungen zu schützen. »Wir werden …«
Das Schiff schwenkte jäh in die Horizontale, so daß Paul und die anderen aufs Deck purzelten. Gleich darauf kam es rüttelnd in der Luft zum Stehen und schwebte nun inmitten eines Dickichts spitzer Dächer.
Brummond hatte sich zurück ans Steuer gehangelt. »Tut mir leid, daß es ein bißchen ruckartig ging«, grölte er. »Aber die Laternen mußten aus. Wir wollen sie doch überraschen.«
Während Paul Gally auf die Füße half, kippte Brummond eine aufgerollte Strickleiter über die Reling. Er lauschte, wie sie in die dunkle Tiefe rauschte, und richtete sich mit einem zufriedenen Schmunzeln auf den Lippen auf.
»Perfekt. Wir sind direkt über dem Kaiserlichen Garten, genau wie ich dachte. Damit rechnen die nie, daß wir den Weg nehmen. Wir sind drin und mit Ihrer Schönen wieder draußen, Jonas, altes Haus, bevor die überhaupt gucken können.«
Professor Bagwalter kniete immer noch auf Deck; er suchte seine Brille. »Ich muß schon sagen, Hurley, das war ein bißchen unnötig, was? Hätten wir uns nicht etwas bedächtiger annähern können?«
Brummond schüttelte mit offensichtlicher Zuneigung den Kopf. »Bags, du alte Schlafmütze! Du kennst doch mein Motto: ›Schnell wie der Wind, drauf wie der Blitz.‹ Wir werden diesen scheußlichen Priestersäcken keine Chance lassen, unser Frauchen wegzuhexen. So, und jetzt ran an den Speck. Jonas, Sie sind natürlich dabei. Bags, ich weiß, wie gern du da mitmischen würdest, aber vielleicht solltest du hier beim Schiff bleiben und es startbereit halten. Außerdem muß jemand auf unsern jungen Freund aufpassen.«
»Ich will mit!« Gallys Augen leuchteten.
»Nein, gegen meine Regeln.« Brummond schüttelte den Kopf. »Was meinst du, Bags? Ich weiß, das kommt dich hart an, aber vielleicht solltest du bloß dieses eine Mal den Abenteurer in dir zügeln.«
Der Professor wirkte nicht übermäßig vergrätzt. Eigentlich, fand Paul, schien er für die Ausrede dankbar zu sein. »Wenn du meinst, daß es sein muß, Hurley.«
»Also, abgemacht. Dann muß ich bloß noch mein kleines Schnuckelchen anschnallen …« Brummond klappte den Deckel einer Kiste neben dem Steuerrad auf und holte einen Kavalleriesäbel in der Scheide heraus, den er sich um die Hüfte gürtete. Er wandte sich Paul zu. »Wie steht’s mit ihnen, mein Freund? Bevorzugte Waffe? Könnte sein, daß ich hier drin noch ein oder zwei Pistolen habe, aber Sie müssen versprechen, nicht eher zu feuern, als ich es sage.« Brummond zog zwei Schußwaffen hervor, die Paul irgendwie sehr altertümlich vorkamen, und lugte beiden in den Lauf. »Gut. Beide geladen.« Er reichte sie Paul, der sie in seinen Gürtel schob. »Schließlich wollen wir die Priester nicht eher als nötig wissen lassen, daß wir’s auf sie abgesehen haben, hmmm?« Brummond wühlte weiter in der Kiste herum. »Sie brauchen also noch was für den Anfang. Ah, goldrichtig.«
Er richtete sich auf, eine exotisch verzierte Waffe in der Hand, die halb Axt und halb Speer zu sein schien und zwei Drittel von Pauls Körperlänge maß. »Schauen Sie mal. Das ist ein vonarischer Saldschak. Erstaunlich gut für den Nahkampf und auch ganz passend, wo Ihre Verlobte doch eine von denen ist. Eine Vonarierin, meine ich.«
Während Paul sich die fremdartige, filigrangeschmückte Waffe betrachtete, stampfte Brummond zur Reling und schwang ein Bein darüber. »Auf geht’s, mein Freund. Zeit, daß wir loskommen.« Mit einem Gefühl der Machtlosigkeit, so als bewegte er sich im Traum eines anderen, folgte Paul ihm über das Geländer.
»Sei vorsichtig«, sagte Gally, aber auf Paul machte er den Eindruck, die Aussicht auf Gewalt und Gefahr mehr zu genießen, als es sich für ihn
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