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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Leute, die an solchen Orten wohnten, wußten, daß sie wenig Gutes zu erwarten hatten, wenn sich das Augenmerk der Polizei auf sie richtete.
    Während sie abermals die Flut der Details über sich ergehen ließ, versuchte Calliope, sich von allen vorgefaßten Meinungen freizumachen und sich einfach die Fakten anzuhören. Das war natürlich fast unmöglich, zumal sie ständig von den kreuz und quer gehenden Verkehrsströmen abgelenkt wurde, die mit gelegentlichen Stockungen vor dem orange leuchtenden Sonnenuntergang dahinrasten.
    Zunächst einmal dachte sie sich den Killer bereits als einen »Er«. Aber mußte es wirklich ein Mann sein? Selbst in ihrer verhältnismäßig kurzen Polizeilaufbahn hatte Calliope genug mit Mord- und Totschlagsdelikten in Sidney zu tun gehabt, um zu wissen, daß auch Frauen anderen Leuten das Leben nehmen konnten, und manchmal überraschend gewalttätig. Aber dieses bizarre, eiskalte, obsessive Spiel mit dem Körper – zu so etwas war bestimmt bloß ein Mann imstande. Oder glitt sie schon wieder in Vorurteile ab?
    Vor ein paar Jahren hatte eine Gruppe in den Vereinigten Staaten – im pazifischen Nordwesten, wenn sie sich recht erinnerte – Schlagzeilen mit der These gemacht, da soziale Gewalt mehrheitlich von Männern ausgehe und es bei einigen Männern genetische Anzeichen für einen ausgeprägten Hang zur Aggression gebe, sollten Kinder männlichen Geschlechts, bei denen man diese Anzeichen feststellte, zwangsweise einer Gentherapie in utero unterzogen werden. Die Gegenstimmen hatten das geforderte Gesetz lange und laut als ein Komplott zur genetischen Kastration beschrien, eine Bestrafung für das schlichte Verbrechen, ein Mann zu sein, und die ganze Debatte war zu einer gegenseitigen Beschimpfung ausgeartet. Calliope hatte das eigentlich sehr bedauert. Sie hatte oft genug erlebt, wie mit grauenhafter Beiläufigkeit Blut vergossen wurde, und zwar fast ausschließlich von jungen Vertretern des männlichen Geschlechts, um sich die Frage zu gestatten, ob an dem, was die Verfechter der Gesetzesinitiative vorbrachten, nicht etwas dran sein könne.
    Als sie es Stan Chan gegenüber erwähnte, hatte der sie eine fascho-lesbische Männerhasserin genannt. Aber er hatte es lieb gesagt.
    Es war sicherlich richtig, daß sie sich hüten mußte, Hypothesen aufzustellen, die nicht von Tatsachen fundiert waren, aber andererseits mußte sie sich in die Person einfühlen, mußte den Täter innerlich finden, bevor sie ihn – oder sie – in der Außenwelt finden konnte. Im Moment mußte sie ihren Instinkten vertrauen. Es fühlte sich an wie das Werk eines Mannes, eines Mannes von der verkorkstesten Sorte, und deshalb würde die Person, die sie suchten, so lange ein Er bleiben, wie sie nicht auf überwältigende Indizien stießen, die auf das Gegenteil hindeuteten.
    Aber außer der Hypothese eines männlichen Täters drängte sich ihr nichts besonders auf, jedenfalls keine Motive. Es hatte keine Spur von sexuellem Mißbrauch gegeben, und selbst für sexuell motivierte Gewalt sprach eigentümlich wenig. In vieler Hinsicht schien es am ehesten ein Ritualmord zu sein.
    Ritualmord. Das Wort vibrierte irgendwie, und sie hatte gelernt, dem Teil von ihr zu trauen, der derartige Schwingungen spürte. Ritualmord. Das mußte sie abspeichern.
    Darüber hinaus gab es wenig, womit sich arbeiten ließ. Der Mörder war in der Vermeidung von Indizien nicht so gründlich gewesen wie der Real Killer, aber der Tod hatte Polly Merapanui im Freien ereilt, unter einer Autobahnüberführung, die derart vom Wind blankgescheuert wurde, daß selbst der sündhaft teure ForVac-Teilchensauger des Morddezernats keine brauchbaren Spuren hatte entdecken können. Der Täter hatte Handschuhe getragen, und ob Polly sich nun gewehrt hatte oder nicht, unter ihren Fingernägeln war jedenfalls kein Fitzelchen von ihrem Mörder zurückgeblieben.
    Wenn nur der alte Aberglaube stimmte, dachte Calliope nicht zum erstenmal in ihrer Mordfahndungslaufbahn – wenn nur sterbende Augen tatsächlich das Bild behielten, das sie als letztes gesehen hatten.
    Vielleicht teilte der Killer ja diesen alten Aberglauben. Vielleicht erklärte das die Steine.
    Ausdruckslos wie ein Uhrwerk leierte die Stimme des Lesegeräts weiter. Das Schild, das ihre Ausfahrt anzeigte, schwamm in ihr Blickfeld, ein undeutlicher ferner Fleck über dem Strom der Rücklichter. Calliope schob sich auf die linke Spur. Keine handfesten Indizien, ein Opfer, das nach Meinung der meisten

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