Otherland 4: Meer des silbernen Lichts
Schatten fast verborgen. Sam drehte sie auf den Rücken. Sie war bewußtlos, aber sie atmete.
Florimel bückte sich und untersuchte sie. »Wir haben alle überlebt, wie es scheint.«
»Alle außer Paul«, wandte Sam ein. Sie war wütend darüber – so ein sinnloser Tod! »Es war überhaupt nicht nötig.«
»Seiner Meinung nach doch«, sagte Florimel sanft. Sie zog eines von Martines Augenlidern hoch, runzelte die Stirn, überprüfte das andere Auge.
»Aber was ist passiert? Kann mir das jemand erklären?« Sam suchte das Felsgesims nach dem Jungen ab, der mit Sellars’ Stimme gesprochen hatte, aber konnte ihn nirgends entdecken.
»Er ist einfach … verschwunden«, sagte Bonnie Mae Simpkins. »Dieser Cho-Cho. Frag mich nicht wie, Kind, ich weiß es auch nicht.«
»Sellars hat ihn ins Netzwerk gebracht«, meldete sich Nandi. »Wenn er fort ist, dann bedeutet das vielleicht, daß Sellars auch fort ist … oder tot.«
»Wer hat denn nu gewonnen?« wollte T4b wissen. Seine übliche Patzigkeit war wie weggeblasen, ja er wirkte beinahe kindlich, fand Sam. »Wir?«
»Ja, in gewisser Weise«, antwortete eine Stimme aus dem Nichts. »Unsere Feinde sind tot oder ausgeschaltet. Aber auch wir haben viel verloren.«
»Sellars?« Florimel blickte leicht gereizt auf, als hätte ein Nachbar sie bei der Hausarbeit gestört. Sam vermutete, daß die Deutsche, genau wie sie alle, nicht mehr ganz auf der Höhe war. »Wo bist du? Wir haben die Spielereien satt.«
Der unsichtbar Anwesende lachte. Sam fragte sich, ob sie ihn vorher schon einmal lachen gehört hatte. Es klang überraschend sympathisch. »Wo ich bin? Überall!«
»Scännig«, knurrte T4b. »Vollblock scännig.«
»Ja«, sagte Sellars. »Es ist weiß Gott alles sehr merkwürdig. Aber Florimel hat recht, ich sollte mich auf meine guten Manieren besinnen und uns allen das Gespräch ein wenig erleichtern.« Und plötzlich war er da, eine eingefallene Gestalt in einem Rollstuhl, das Gesicht verrunzelt wie eine Trockenfrucht. Die Räder des Rollstuhls setzten nicht auf dem Felsabsatz auf – mehrere Meter davon entfernt schwebte er über dem großen Loch. »Hier bin ich. Ich weiß, ich bin kein besonders erhebender Anblick.«
»Heißt das, wir werden alle weiterleben?« fragte Florimel. »Kannst du mir mit Martine helfen?«
Sellars schwebte ein Stück näher. »Sie wird bald wach werden, denke ich. Es geht ihr körperlich so gut, wie man es unter den Umständen erwarten kann.« Er schüttelte seinen entstellten Kopf. »Sie hat eine ungeheure Last getragen, Schmerz und Angst in einem Maße, wie nur wenige es ausgehalten hätten. Sie ist eine außerordentliche Persönlichkeit.«
Martine stöhnte auf, schlug sich die Hände vors Gesicht und wälzte sich herum, so daß sie ihnen wieder den Rücken zukehrte. »Du sagst freundliche Sachen über mich.« Ihre Stimme war heiser und beinahe tonlos. »Ich hoffe, das heißt, daß ich tot bin.«
Sam kroch zu ihr und strich ihr verlegen übers Haar. »Nicht doch, Martine.«
»Es stimmt aber, du hast Erstaunliches vollbracht, Martine Desroubins«, sagte Sellars. »Wobei es natürlich fast genauso erstaunlich ist, daß wir alle am Leben geblieben sind. Und es kann gut sein, daß wir bald Zeugen von etwas noch Erstaunlicherem werden.«
»Schluß mit dem aufgeblasenen Geschwätz«, schnaubte Florimel. »Ich bin zwar wider Erwarten am Leben, aber ich habe keine Lust, mich von einer Rede über unsere großartigen Leistungen einlullen zu lassen. Wo ist meine Tochter Eirene? Ich kann sie fühlen, glaube ich – ihr wirklicher Körper lebt zum Glück noch, aber was ist mit dem Koma?« Sie wandte sich von Martine ab und stellte sich mit finsterem Blick vor Sellars hin. »Ihre Seele muß irgendwo da oben sein – völlig verwirrt und entsetzt nach all dieser Vernichtung. Ich werde sofort zu ihr hinaufsteigen. Ihr andern könnt von mir aus so lange hier reden, wie ihr wollt.«
»Ich bedaure sehr, Florimel.« Schweben war nicht das richtige Wort, fand Sam, für die Art, wie Sellars felsenfest über der Leere saß, als ob ihn kein Orkan einen Zentimeter vom Platz bewegen könnte. »Ich wünschte, ich könnte dir die Mitteilung machen, daß sie wieder gesund ist und ihr realer Körper in diesem Moment erwacht, aber leider kann ich das nicht. Es gibt vieles, was ich einfach nicht weiß, denn die Geheimnisse sind bei weitem nicht alle gelüftet. Allerdings kann ich dir wenigstens versichern, daß die Eirene, die du liebst, nicht irgendwo
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