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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Zum erstenmal in all den Jahren, die sie ihn kannte, schien der Thargorkörper nicht sein wirkliches Ich zu sein, sondern ein Kostüm, das Gesicht eine Maske. Wo war er? War er innendrin immer noch derselbe Orlando? Sie glaubte es eigentlich, aber der Freund, der ihr soviel bedeutet hatte, war für sie im Augenblick unerreichbar.
    »Ich komm jeden Tag und besuch dich«, erklärte sie ihm. »Das versprech ich.«
    »Mach keine Versprechungen, Frederico«, erwiderte er brüsk.
    »Wieso das denn?« Jetzt war sie verstimmt. »Meinst du vielleicht, ich vergeß dich? Orlando Gardiner, du scännst so ultramegavoll …!«
    Er hob seine große Hand. »Nein, das meine ich nicht, Frederico. Ich meine bloß … mach keine Versprechungen. Ich will nicht denken müssen, wenn du mich besuchen kommst, dann nur deswegen, weil … weil du es versprochen hast.«
    Sie machte den Mund auf, dann schloß sie ihn wieder. »Chizz«, sagte sie schließlich. »Keine Versprechungen. Aber ich werde kommen. Jeden Tag. Du wirst sehen.«
    Er lächelte ein wenig. »Okay.«
    Das Schweigen, das sich anschloß, war ihr unbehaglich. Sie balancierte auf einem Fuß. Sellars hatte Kunohara beiseite genommen, vermutlich um ihn in irgendein interessantes Erwachsenengespräch zu verwickeln. »Ach, Fen-fen, Gardiner«, sagte sie endlich. »Willst du mich nicht umarmen oder sowas?«
    Er folgte der Aufforderung unbeholfen, doch dann zog er sie an sich. Seine Stimme klang belegt. »Bis bald dann, Fredericks. Sam.« Er drückte sie. »Ich … ich liebe dich.«
    »Ich liebe dich auch, Orlando. Und untersteh dich, je zu denken, ich kam bloß, weil ich müßte, oder irgendso’n Dumpfkack.« Sie rieb sich wütend die Augen. »Und denk bloß nicht, ich weine, weil ich ein Mädchen bin.«
    »Okay. Und denk du nicht, ich weine, weil ich tot bin.«
    Sie lachte, schluckte, dann schob sie ihn weg. »Bis morgen.«
    »Yeah. Bis dann.«
    Sie machte die Befehlsgeste. »Offline.«
     
    Es war nicht so leicht, wie sie es erwartet hatte – wie es ihrer Meinung nach hätte sein sollen. Zwar traten nicht die grauenhaften Stromstoßschmerzen auf, die sie das Mal davor erlebt hatte, aber ihr Körper tat weh, und sie konnte die Augen nicht öffnen.
    Als sie die verklebten Lider schließlich doch auseinanderbekam, war es fast noch schlimmer. Ihre Augen juckten, doch sie konnte nicht den Arm heben, um zu reiben. Sie schien in einem Netz aus Stacheldraht gefangen zu sein, das bleischwer war und überall stach. Sie rollte den Kopf herum – er war so schwer! – und sah die an Armen und Beinen klebenden Schläuche. Aber wie konnten solche dünnen Plastikteile sich dermaßen wie eiserne Ketten anfühlen?
    Sellars hatte wie versprochen ihre Eltern angerufen. Sie sah sie am Ende des Bettes schlafen, die Stühle nebeneinander gestellt, ihre Mutter an die Brust ihres Vaters gesunken, den Kopf unter seinem Kinn an den breiten Hals geschmiegt.
    Ich wein schon wieder, dachte sie, als die Gesichter ihrer Eltern verschwammen. Was anderes mach ich in letzter Zeit wohl überhaupt nicht mehr. Sowas Bescheuertes …! Sie versuchte sie zu rufen, doch ihre Stimme war so schwach und unbrauchbar wie ihre Glieder. Außer einem pfeifenden Gurgeln kam nichts heraus.
    Ich hoffe bloß, daß ich nach alledem jetzt nicht sterbe oder sowas, dachte Sam, doch es war keine Angst, was sie verspürte, nur unendliche Müdigkeit. Ist das scännig! Da lieg ich seit Wochen im Bett, irgendwie, und alles, was ich will, ist schlafen. Sie versuchte noch einmal, ihre Eltern zu rufen, und obwohl der Ton, den sie schließlich machte, nicht lauter war, als wenn ein Fisch hustet, hörte ihre Mutter sie.
    Enrica Fredericks’ Augen gingen auf. Eine anfängliche Benommenheit verflog, als sie sah, daß Sam sie anblickte.
    »Jaleel!« schrie sie auf. »Jaleel, schau!« Sie sprang an das Bett und küßte Sams Gesicht. Seiner Stütze beraubt, rutschte ihr Mann zur Seite und wachte auf.
    »Was zum Teufel …?«
    Doch dann sah er sie, und auch er stürzte mit einem Satz auf sie zu, so schön in seiner dunklen Massigkeit, die Arme so weit ausgebreitet, daß es aussah, als wollte er Sam und seine Frau beide packen, sie zusammen in die Arme schließen und in die Luft heben. Sam konnte nicht einmal die Kraft aufbringen, den Kopf zu drehen, und sah deshalb ihre Mutter kaum, die ihr die Backe küßte und mit Tränen näßte und dabei Sachen sagte, die Sam nicht richtig verstand – aber das war auch nicht nötig, denn sie erkannte die Töne der

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