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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Höherentwicklung vollzieht, vielleicht sogar eine Art Bewußtsein ausbildet.« Er nahm wieder einen Schluck. »Anscheinend habe ich diese Beobachtung mit ein paar Jahrzehnten Verspätung gemacht.«
    »Und das andere kleine … Rätsel?« Martines Stimme kam Paul ungewöhnlich hart vor. Kunohara war gewiß nicht die Liebenswürdigkeit in Person, aber er hatte sie immerhin gerettet und ihnen Asyl gewährt.
    »Kishimo-jin. Ein menschenfressendes Ungeheuer, ein Geschöpf aus einem buddhistischen Märchen. Sie war eine Dämonin, die Kinder auffraß, bis der Buddha sie bekehrte. Danach wurde sie ihre besondere Beschützerin.«
    »Auch mit dieser Erklärung«, bemerkte Martine trocken, »wird es nicht viel klarer. Mit dem kinderfressenden Ungeheuer willst du auf den Andern anspielen? Was sagt uns das?«
    Kunohara lächelte leicht; der Schlagabtausch schien ihm Spaß zu machen. Vielleicht mochte der Mann keine Menschen, dachte Paul, aber Wortgeplänkel schien er sehr wohl zu mögen. »Betrachten wir uns, was ihr mir erzählt habt. Ja, dieses System frißt Kinder, könnte man sagen. Aber ist euch nicht aufgefallen, wie sehr es von Kindern und Kindlichem aller Art fasziniert ist? Seid ihr nicht wie ich auf meinen Fahrten durch andere Simulationen den kindlichen Gestalten begegnet, die nicht in die Welten zu gehören scheinen, in denen man sie antrifft?«
    »Die Waisen!« schrie Paul beinahe. Als er merkte, daß alle ihn ansahen, räusperte er sich verlegen. »Entschuldigung. Das ist mein Name für Figuren wie Gally, den kleinen Jungen, dem ich in zwei verschiedenen Simulationen begegnet bin. Es sind keine normalen Personen wie wir – sie wissen nicht, wer sie außerhalb der Simulation sind. Als ich mit Orlando und Fredericks zusammen war, kam uns der Gedanke an einen Zusammenhang mit den im Koma liegenden Kindern.«
    »Die Verlorenen«, sagte Martine leise. »Wie heimatlose Seelen waren sie. Javier hörte jemanden, den er kannte.«
    »T4b«, korrigierte er sie, aber mehr pro forma. »Matti war da. Echt mega cräsh, die Sache.«
    »Nun, auf jeden Fall scheint das Betriebssystem – der Andere – von solchen Dingen fasziniert zu sein, nicht wahr?« Kunohara sah Martine an. »Von Kindern und allem, was mit Kindheit zu tun hat…«
    »Kindergeschichten zum Beispiel.« Die blinde Martine konnte seinen Blick nicht erwidern, aber sie pflichtete ihm in dem Punkt deutlich bei. »Du hast zu den anderen etwas darüber gesagt. Daß da eine Art … Geschichtenkraft am Werk sein könnte. Eine gestaltende Kraft.«
    »Du hast von einem ›Mem‹ gesprochen«, sagte Florimel. »Ich habe das Wort schon mal gehört, weiß aber nicht, was es bedeutet.«
    »Vielleicht sitzt dieses Mem in diesem Augenblick unter uns«, erwiderte ihr Gastgeber. »Vielleicht habe ich es mir selbst ins Haus geholt.«
    Es tat Paul weh, Martine plötzlich erbleichen zu sehen. »Mach keine Spielchen mit uns, Mensch«, sagte er. »Was meinst du damit?«
    »Ein Mem.« Martine flüsterte beinahe. »Das Wort bedeutet so etwas wie ein … geistiges Gen. Es ist eine Theorie aus dem vorigen Jahrhundert, die seinerzeit heiß umstritten war. Der Kommunismus war ein solches Mem, würden manche sagen. Eine Idee, die sich im menschlichen Bewußtsein immer wieder reproduzierte, wie eine biologische Eigenschaft. Das ewige Leben wäre ein anderes Beispiel, ein Mem, das sich bewundernswert lange gehalten hat, über Hunderte von Generationen hinweg … man denke nur an die Gralsbruderschaft und ihr hartnäckiges Streben danach.«
    »Gebt mir’n Hirnhit«, ächzte T4b. »Dieser Käferheini sagt, daß jemand hier’n Kommunist ist? Ich dachte, die wärn alle so Abexer, Dinotypen, irgendwie.«
    »Herr Kunohara meint, es könnte sein, daß ich und andere in diesem lange zurückliegenden Experiment am Pestalozzi-Institut das Betriebssystem der Bruderschaft mit der Idee von Geschichten infiziert haben, daß wir diesem sich rasant entwickelnden Maschinenwesen mit Märchen wie denen der Brüder Grimm oder von Perrault einen Begriff von Kausalität vermittelt haben.« Martine legte ihre Finger an die Schläfen und preßte. »Es ist möglich – ja, ich gebe zu, daß das möglich ist. Aber welche Konsequenzen hätte das für uns?«
    Sein Getränk schien Kunohara im Moment wohl zu behagen, denn er machte einen recht zufriedenen Eindruck. »Das ist schwer zu sagen, aber ich glaube, Indizien dafür finden sich überall. Denkt an die Dinge, die in euren Erlebnissen immer wiederkehren, denkt daran,

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