Owen Meany
fuhren kreuz und quer durch die Stadt und überall auf dem
Schulgelände herum; doch weder er noch der große Laster waren zu sehen. Wir
fuhren mehrere Male aus der Stadt hinaus und wieder zurück – und den Maiden
Hill hinauf, zum Steinbruch, nur um festzustellen, ob der Lastwagen wieder zu
Hause stand; das tat er nicht. Wir fuhren die ganze Nacht umher.
»Denk nach!« drängte mich Dan. »Was wird er tun?«
»Ich weiß nicht«, sagte ich. Wir fuhren gerade wieder stadteinwärts,
an der Tankstelle neben der St. Michael’s School vorbei. Das Zwielicht
schmeichelte dem schäbigen Schulhof; das frühe Morgenlicht warf einen
glänzenden Schein auf die Furchen im Schotter und ließ die Fläche des
Schulhofes so glatt erscheinen wie die eines stillen Sees, an dem sich kein
Lüftchen regt. Das Haus, in dem die Nonnen wohnten, war völlig dunkel, und dann
ging die Sonne auf – ein rosafarbener Lichtschein legte sich über den Schulhof;
und der frisch getünchte Torbogen, der die Statue der Maria Magdalena
beherbergte, reflektierte das rosafarbene Licht. Das einzige, was nicht
stimmte, war, daß die heilige Torhüterin nicht in ihrem Tor stand.
»Halt mal an«, sagte ich zu Dan. Er hielt an und drehte um. Wir
fuhren auf den Parkplatz hinter der Schule, und vorsichtig steuerte Dan den
Wagen auf den zerfurchten Schulhof; er fuhr direkt bis vor den leeren
steinernen Torbogen.
Owen hatte saubere Arbeit geleistet. Damals war mir nicht ganz klar,
welche Werkzeuge er wohl benutzt hatte – vielleicht diese Dinger, die er
»Spaltkeile« nannte; doch das Klopfen von Metall [559] auf
Stein hätte die allzeit wachsamen Nonnen sicherlich geweckt. Vielleicht hatte er
eine dieser speziellen Granitsägen verwendet; das Blatt ist mit Diamanten
besetzt; ich bin sicher, damit hätte er Maria Magdalena sauber von ihrem Sockel
trennen können – und in der Tat hatte er ihre Füße sauber vom Sockel getrennt.
Möglicherweise hat er sogar ein bißchen Dynamit verwendet – natürlich geschickt
plaziert. Ich würde ihm sogar zutrauen, daß er die heilige Maria Magdalena von
ihrem Sockel weggesprengt hat – ich bin sicher, er
konnte die Explosion so geschickt dämpfen, daß die Nonnen nicht aufwachten.
Später, als ich ihn fragte, wie er es gemacht hatte, gab er mir seine übliche
Antwort.
»GLAUBEN UND BETEN. GLAUBEN UND BETEN. ES FUNKTIONIERT – ES
FUNKTIONIERT WIRKLICH.«
»Diese Statue wiegt doch hundert oder hundertfünfzig Kilo!« meinte
Dan Needham.
Bestimmt gehörte zu dem schweren Werkzeug, das Hester gesehen hatte,
auch eine Art hydraulisches Hebezeug oder ein Kran, obwohl ihm das nicht dabei
geholfen haben kann, Maria Magdalena die lange Treppe im Hauptgebäude der
Gravesend Academy hinaufzuschaffen – oder auf die Bühne der Aula. Dazu hat er
sicherlich einen Handwagen gebraucht – und selbst dann kann es nicht einfach
gewesen sein.
»ICH HAB SCHON MIT SCHWEREREN GRABSTEINEN ZU TUN
GEHABT «, meinte er später; doch ich kann mir nicht vorstellen,
daß er gewohnt war, Grabsteine Treppen hochzutragen.
Als Dan und ich ins Hauptgebäude kamen und zur Aula hinaufgingen,
saß der Hausmeister bereits auf einer der Bänke ganz vorn und starrte die
heilige Statue an; er schien zu denken, Maria Magdalena würde zu ihm sprechen,
wenn er nur genug Geduld hatte – obwohl Dan und ich sofort bemerkten, daß Maria
nicht die alte war.
» Er hat es gemacht – der kleine Kerl, den
sie rausgeschmissen [560] haben, was?« fragte der
Hausmeister Dan; doch der war sprachlos.
Wir setzten uns neben den Hausmeister auf die von der Morgensonne
beschienene Bank. Wie immer bei Owen Meany, so war auch hier die Symbolik zu beachten. Er hatte Maria Magdalenas Arme
abgetrennt, oberhalb der Ellbogen, so daß ihre beschwörende Geste nun noch
flehentlicher wirkte als zuvor – und noch hilfloser. Dan und ich wußten, daß
Owen von dem Gedanken der Armlosigkeit besessen war – es war Watahantowets
bekanntes Totem, und das, was Owen aus meinem Gürteltier gemacht hatte. Die
Schneiderpuppe meiner Mutter hatte ebenfalls keine Arme.
Doch Dan und ich waren nicht darauf vorbereitet, daß Maria Magdalena kopflos war – denn ihr Kopf war sauber abgesägt oder
abgeschnitten oder weggesprengt worden. Da die Schneiderpuppe meiner Mutter
auch keinen Kopf hatte, kam es mir vor, als sei Maria Magdalena eine
zweihundert Kilo schwere steinerne Version der Puppe; meine Mutter hatte die
bessere Figur, doch Maria Magdalena war größer. Sie war sogar größer
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