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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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GEHÖRT, MAN MUSS ÜBER
EINE VIER METER HOHE MAUER KLETTERN, DAS IST WOHL EIN BISSCHEN HOCH FÜR MICH.«
    Hester sang ein Lied; sie weigerte sich, an einem Gespräch über die
Grundausbildung teilzunehmen; sie sagte, wenn Owen noch einmal das Wort KAMPFTRUPPE in den Mund nähme, müsse sie kotzen. Ich
werde nie vergessen, welches Lied Hester gesungen hat; es ist ein kanadisches Lied, und – über die Jahre – habe ich es
hundertmal gehört. Und dabei läuft es mir jedes Mal kalt den Rücken runter.
    Selbst wer in den sechziger Jahren gerade erst zur Welt gekommen
ist, kennt dieses Lied von Ian Tyson sicherlich, dieses Lied, an das ich mich
so gut erinnern kann:
    Four strong
winds that blow lonely,
    Seven seas that run high,
    All those things that don’t change come what may.
    But our good times are all gone,
    And I’m bound for moving on,
    I’ll look for you if I’m ever back this way.

[644]  Sie schickten ihn nach Fort
Knox, oder vielleicht war es auch Fort Bragg, ich weiß es nicht mehr – einmal
habe ich Hester gefragt, ob sie sich noch daran erinnern könne, wo Owen seine
Grundausbildung absolvierte.
    »Ich weiß nur, daß er besser nicht hingegangen wäre – er hätte nach Kanada gehen sollen«, meinte Hester.
    Wie oft habe ich das gedacht! Manchmal ertappe ich mich dabei, wie
ich nach ihm suche – und sogar erwarte, ihn zu sehen. Einmal, im Churchill
Park, als sich dort ein paar Kinder herumbalgten – jedenfalls bewegten sie sich
sehr schnell –, sah ich jemanden von seiner Größe, der etwas abseits vom Trubel
stand, er schien zu zögern, war aber sehr wachsam, wollte sicher auch versuchen zu tun, was die anderen taten, hielt sich jedoch
zurück oder wartete auf den Augenblick, in dem er die Führung des Spiels
übernehmen konnte.
    Doch Owen ist nicht nach Kanada gegangen, er ging nach Fort Knox
oder Fort Bragg, wo er die Hindernisbahn nicht schaffte. In der Theorie war er
der beste; er hatte die besten Noten in »Führungsqualitäten« – was auch immer
das sein mag, was auch immer die US -Army darunter
versteht. Doch mit der Mauer hatte er recht gehabt; sie war ein bißchen hoch
für ihn – er kam einfach nicht drüber. Er war »an der Mauer gescheitert« – so
wurde es in der Armee bezeichnet. Und da man sich in einer ROTC -Einheit nur dann auszeichnen konnte, wenn man in allen drei Bereichen, nämlich Theorie, Führungsqualitäten
und körperlicher Fitness, hervorragend war, erhielt Owen Meany – so einfach
ging das – seine Auszeichnung nicht; es war daher nicht sicher, ob er zu einer
Kampftruppe geschickt werden würde.
    »Aber du kannst doch so toll springen !«
meinte ich zu ihm. »Hättest du nicht einfach drüber springen können – hättest du dich nicht oben an der Mauer festhalten und dich irgendwie
drüberziehen können?«
    »ICH BIN DOCH GAR NICHT AN DIE KANTE DER MAUER [645]  GEKOMMEN !« gab er zurück. »ICH KANN SCHON GUT SPRINGEN, ABER ICH BIN NUN MAL
NUR EINSFÜNFZIG GROSS! ES IST NICHT SO, WIE WENN WIR DEN SCHUSS ÜBEN – ICH DARF
MICH NICHT VON JEMANDEM HOCHHIEVEN LASSEN!«
    »Ist ja nicht so schlimm«, meinte ich. »Du bist ja noch ein ganzes
Jahr an der Uni. Kannst du Colonel Eiger nicht bearbeiten? Ich bin sicher, du
kannst ihn dazu bringen, daß er dir das gibt, was du willst.«
    »ABER ICH HAB KEINE AUSZEICHNUNG GEKRIEGT – VERSTEHST DU DAS NICHT? DA GIBT ES GANZ KLARE VORSCHRIFTEN. COLONEL EIGER MAG MICH, ABER ER HÄLT MICH EINFACH NICHT FÜR FIT !« Sein Scheitern
beschäftigte ihn so sehr, daß ich ihn nicht dazu drängen wollte, mir
Sprengunterricht zu geben. Es tat mir leid, daß ich überhaupt mit Colonel Eiger
gesprochen hatte – Owen war so niedergeschlagen. Doch gleichzeitig wollte ich
nicht, daß er zu einer Kampftruppe kam.
    Im Herbst 1965, als wir unser letztes Studienjahr in Durham
begannen, wurde bereits gegen die amerikanische Vietnampolitik demonstriert; im
Oktober fanden Protestkundgebungen in dreißig oder vierzig amerikanischen
Städten statt – ich glaube, Hester war bei der Hälfte dieser Kundgebungen
dabei. Typischerweise wußte ich nicht, was ich davon halten sollte: Ich fand
zwar die Demonstranten glaubwürdiger als jeden, der auch nur im entferntesten
mit der »amerikanischen Politik« sympathisierte; gleichzeitig jedoch hielt ich
Hester und die meisten ihrer Freunde für Verlierer, für Spinner. Hester hatte
bereits begonnen, sich als »Sozialistin« zu bezeichnen.
    »OH, ENTSCHULDIGUNG, ICH DACHTE, DU WÄRST KELLNERIN ! TEILST DU

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