Paarweise
um die 50, sie einige Jahre älter als er. Es zeichnete sich ab, dass die Probleme primär bei ihm lagen. Gemäß dem systemischen Muster, dass der Sensibelste im System die Leidensdruckposition übernimmt.
Er schilderte, dass er nur arbeite, aber das Geld nicht reiche. So viel könne er gar nicht reinholen, wie sie ausgäbe. Sie schüttelte bei jedem seiner Sätze dezent den Kopf. Er sah sich als den Teppichboden, auf dem alles stattfände, wobei er aber weder Anerkennung noch Dankbarkeit erführe. Ja mehr noch: Er fühle sich längst als lästig und gerade noch gut genug zum Zahlen.
Weiter stellte sich heraus, dass er glaubte, viele Dinge nicht zu »dürfen«. Und dass der Begriff »dürfen« nicht passe zu einem erwachsenen Mann, nahm er von mir erst einmal an. Seine Frau beklagte, dass er ihr wenig Orientierung gebe, dass er doch bitte öfter sagen möchte, was er konkret will.
Ich warf ein, dass Männer häufig eine klare Ansage brauchen, aber auch Frauen gerne wissen wollen, wie sie dran sind, wissen wollen, was ihn bewegt, was er will und was ihn nervt. Wichtig war jetzt, ein Muster zu trainieren: Ohne nach dem »Dürfen« zu fragen, sollte er seine Bedürfnisse äußern und diskutieren, was davon mit der Beziehung zu seiner Frau vereinbar, von ihr sogar erwünscht sei. Der Mann erkannte, dass er 30 Jahre nach einem falschen Motiv gelebt hatte und wurde sehr nachdenklich.
Der Begriff »Leer-Nest-Syndrom« war beiden geläufig, aber sie hatten den Gedanken bislang nicht verfolgt.
Sie erzählte mir von der gemeinsamen harten Zeit, in der beide Studium und Kinder unter einen Hut bringen mussten. Dass sie da ihre angepasste Haltung mitbrachten, die sie ja auch miteinander verband, war fürs erste gemeinsame wirtschaftliche Überleben sicher angemessen. Aber sie bemerkten nicht, wie sie dieses für Außenstehende praktische Verhalten dann Jahr für Jahr als Muster zementierten, Stress zu bewältigen.
Im Einzelgespräch saß mir eine von vielen Sorgen gedrückte Frau gegenüber und erzählte mir, dass ihr Mann und sie eigentlich nur den immer noch sehr lustvollen Sex als Gemeinsamkeit hätten. Bereits vor einigen Jahren habe sie eine Kunsttherapie-Ausbildung gemacht, dann aber sei sie wegen der Pflege ihrer Eltern nicht mehr
zum Praktizieren gekommen. Jetzt, nachdem ihre Eltern im Abstand eines halben Jahres verstorben waren, würde ihr die sehr geliebte Tätigkeit enorm gut tun, nun habe sie wieder Anerkennung und eigenes Geld.
Diese Anerkennung kam jedoch nicht von ihrem Mann, denn erstens konnte er dieses nicht zeigen, und zweitens war er zur Steigerung ihres Selbstwertgefühls zu nah.
Durch die Anerkennung aber war es ihr möglich, das entscheidende, belastende Muster zu durchbrechen. Sie musste sich nicht mehr provozieren lassen und so heftig streiten, dass sie sich – wie früher − am Ende noch bei ihm entschuldigen musste. Folglich konnte auch der Leidensdruck, den sie ihm bisher stets abgenommen hatte, bei ihm als Motivator zur Veränderung wirken.
Der Frau war bewusst, dass es der richtige Weg war, sich um sich und ihr eigenes Glück zu kümmern und dadurch wieder partnerschaftsfähiger zu werden. Schließlich liebten die beiden einander. Und die gute Sexualität war ja schließlich ein bedeutsames psychosomatisches Symptom, das für die Gesundheit dieser Partnerschaft sprach, in der lediglich seine Wertschätzung ihr gegenüber und die souveräne Kommunikation fehlten.
Kurze Zeit später war er dann dran zum Vier-Augen-Gespräch. Als er kam, signalisierte er mir deutlich, dass sie sich neu arrangiert, sich wiedergefunden und einander wieder etwas zu sagen hatten. Und so mutierte meine Rolle vom Krisentherapeuten zum Außenstehenden. Auch im Dreiergespräch war diese Allianz zwischen den beiden sofort zu spüren. Sie waren ein Paar auf einer deutlich reiferen Ebene, auf der sie diese wundervolle Kombination aus Wohlwollen,
Toleranz und Vertrauen auch wirklich lebten. Sie bedankten sich beide bei mir als sehr befreit von der Last der Ungewissheit und dafür voller Überzeugung, dass sie jetzt ihren gemeinsamen neuen Weg gefunden hatten. Dass die Kombination aus Intelligenz, Motivation, Veränderungsbereitschaft und Kommunikation sie zu diesen Erkenntnissen geführt hatte, die es ihnen ermöglichten, die lange Ehe auf einem neuen Glückslevel weiterzuführen.
Der Gießen-Test
Meine Klienten füllen zu Beginn einer Beratung, eines Coachings oder einer Therapie obligatorisch einen
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