Paladin der Seelen
daraus zu befreien. Eindringliche Blicke, eine unbeholfene Zunge, ein stiller Druck der Erwartung … sie konnte einen Gott verfluchen, aber nicht den Knecht.
Sie blickte im Hof umher. Es war weder Mitternacht noch Mittag; es gab nichts, das mit ihren Träumen übereinstimmte. In ihren Träumen waren weder Goram noch Liss zugegen gewesen, und es war die falsche Tageszeit … vielleicht war es sicher. Und mildtätig. Sie atmete tief durch.
»Nun gut, Liss. Wollen wir unsere Pilgerfahrt wieder aufleben lassen und uns eine weitere Ruine ansehen?«
Liss half ihr auf; Neugier spiegelte sich auf ihrem Gesicht. Bei ihr untergehakt, erklomm Ista langsam die Treppe. Goram sah besorgt zu. Seine Lippen bewegten sich, als würde er in Gedanken jeden ihrer Schritte antreiben.
Die Frauen folgten dem Knecht bis zum Ende der Galerie. Er öffnete die Tür, trat zurück und verbeugte sich wieder. Ista zögerte, dann folgte sie Liss ins Innere.
12
D
as Gemach war heller, als sie es aus ihrer Vision in Erinnerung hatte. Die Fensterläden an der gegenüberliegenden Wand standen offen und gaben den Blick auf den blauen Himmel dahinter frei, was den Raum luftig und freundlich wirken ließ. Es roch nicht wie in einem Krankenzimmer. Es gab keine Bündel intensiv duftender Kräuter, die von den Dachsparren hingen und es doch nicht schafften, den unterschwelligen Geruch nach Fäkalien, Erbrochenem, Schweiß und Verzweiflung zu übertünchen. Hier waren bloß kühle Luft, der Geruch nach Bohnerwachs und ein schwaches, nicht unangenehmes männliches Aroma. Alles andere als unangenehm.
Ista zwang sich, zum Bett zu blicken, und stand wie angewurzelt.
Das Bett war gemacht. Er lag auf der Tagesdecke – nicht wie ein Mann auf seinem Krankenlager, sondern wie einer, der sich für einen Augenblick hingelegt hatte, um an einem anstrengenden Tag kurz zu ruhen. Oder wie ein Leichnam, der in seiner besten Kleidung für die Beerdigung aufgebahrt lag. Er war groß und schlank, wie in ihren Träumen, war aber gänzlich anders gekleidet: kein Patient oder Schläfer, sondern ein Höfling. Er trug eine braune Tunika, bestickt mit rankenden Blättern; passende Hosen steckten in polierten Stiefeln. Ein kastanienbrauner Mantel lag ausgebreitet unter und neben ihm, und auf dessen sorgsam angeordneten Falten lag ein Schwert in einer Scheide. Der mit Einlegearbeiten verzierte Griff befand sich unter den kraftlosen Fingern des Kranken. An einem der Finger funkelte ein Siegelring.
Sein Haar war aus der hohen Stirn zurückgekämmt und zu Schnüren geflochten, die von den Schläfen aus über den Kopf liefen. Der dunkle, mattierte Schopf endete in einem Zopf, der über die rechte Schulter gelegt war und auf der Brust ruhte. Das Ende des Zopfes war hinter der kastanienbraunen Schnur glatt ausgebürstet. Der Kranke war frisch rasiert. Der Duft von Lavendelwasser stieg Ista in die Nase.
Sie bemerkte, dass Goram sie mit schmerzhafter Eindringlichkeit musterte. Seine Finger spannten sich, während seine Hände einander fest umschlossen hielten.
Diese stille Anmut musste sein Werk sein. Was war die Gestalt auf dem Bett für ein Mann gewesen, dass ihm eine solche Hingabe von einem Lakaien zuteil wurde – jetzt, wo er so offensichtlich jede Macht verloren hatte, zu bestrafen oder zu belohnen?
»Bei den fünf Göttern«, stieß Liss hervor. »Er ist tot .«
Goram schnüffelte. »Nein, ist er nicht. Er fault nicht.«
»Aber er atmet nicht!«
»Doch. Mit dem Spiegel kannst du’s sehen. Schau.« Er schlich sich um das Bett und hob einen kleinen Handspiegel von einer daneben stehenden Truhe auf. Dann warf er dem Mädchen unter seinen buschigen Augenbrauen einen ärgerlichen Blick zu, und hielt den Spiegel unter Lord Illvins Nasenlöcher. »Siehst du?«
Liss beugte sich näher über die reglose Gestalt und warf einen misstrauischen Blick hinunter. »Das ist dein Daumenabdruck.«
»Ist es nicht!«
»Nun … meinetwegen …« Liss richtete sich auf und wich mit einer abgehackten Bewegung zurück, als wollte sie Ista auffordern, an ihre Stelle neben das Bett zu treten und sich selbst ein Urteil zu bilden.
Unter Gorams sehnsüchtigen Blick kam Ista näher und dachte darüber nach, was sie dem grauhaarigen Burschen sagen könnte. »Du sorgst gut für ihn. Es ist tragisch, dass Ser dy Arbanos auf diese Weise niedergestreckt wurde.«
»Ja«, sagte er, schluckte und fügte hinzu: »Also … dann macht, Herrin.«
»Was?«
»Küsst ihn.«
Für einen
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