Paladin der Seelen
Augenblick biss sie die Zähne so fest zusammen, dass sie ein Stechen im Kiefer spürte. Doch auf Gorams zerfurchtem, angespanntem Gesicht war kein versteckter Schalk zu erkennen, kein Hinweis auf irgendeinen Streich.
»Ich kann dir nicht ganz folgen.«
Goram biss sich auf die Lippe. »Eine Prinzessin hat ihn hergebracht, deshalb könnt Ihr ihn vielleicht wieder wecken, denn Ihr seid ja Königin …« Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: »Königinwitwe.«
Es war ihm todernst, erkannte Ista mit Bestürzung. So sanft sie konnte sagte sie: »Goram, das sind Kindermärchen. Aber wir sind keine Kinder mehr, den Göttern sei’s geklagt.«
Ein leiser, erstickter Laut ließ sie zur Seite blicken. Liss’ Gesicht zuckte, doch sie verkniff sich ein Lachen, und Ista dankte den Göttern dafür.
»Ihr könnt es doch versuchen. Schadet ja nicht, es zu versuchen .« Wieder wippte er unbehaglich vor und zurück.
»Ich fürchte, das nutzt auch nichts.«
»Schadet doch nicht«, wiederholte er verbissen. »Man muss ja was versuchen.«
Gewiss hatte es ihn mehrere Stunden akribischer Vorbereitung gekostet, seinen Herrn für Ista herzurichten. Welche verzweifelte Hoffnung konnte ihn zu solch bizarren Auswüchsen antreiben?
Vielleicht träumt er auch? Der Gedanke schnürte ihr die Luft ab.
Die Erinnerung an den zweiten Kuss des Bastards ließ ihr Gesicht warm werden. Was, wenn es nicht nur ein ruchloser Scherz gewesen war, sondern eine weitere Gabe – eine, die sie weiterleiten sollte? War es ihr vielleicht gegeben, ein derart mildtätiges Wunder der Heilung zu vollbringen? So werden die Heiligen von ihren Göttern in Versuchung geführt. Ihr Herz pochte vor Aufregung. Ein Leben für ein Leben, und durch die Gnade des Bastards ist meine Sünde von mir genommen.
Sie beugte sich vor. Die rasierte Haut an Illvins Kinn spannte sich über den Knochen seines hageren Gesichts. Seine Lippen zeigten eine unbestimmte Farbe; sie waren leicht geöffnet und entblößten bleiche Zähne.
Seine Lippen fühlten sich weder warm noch kalt an, als Ista die ihren darauf drückte …
Sie entließ ihren Atem in den Mund des Mannes und erinnerte sich daran, dass die Zunge als dem Bastard heilig galt – wie der Leib der Mutter, die männlichen Geschlechtsorgane dem Vater, das Herz dem Bruder und das Hirn der Tochter –, weil die Zunge der Quell aller Lügen war, wie die vierfältigen Ungläubigen fälschlich vorbrachten. Ista wagte es, verstohlen die Zähne zu berühren, die kühle Spitze seiner Zunge mit der ihren zu ertasten, so wie der Gott in ihrem Traum in ihren Mund eingedrungen war. Sie breitete die Finger aus, ließ sie über seinem Herzen schweben, wagte aber nicht, ihn zu berühren und nach seinem Verband zu tasten, den er unter der reich verzierten Tunika um die Brust gewickelt trug. Sein Brustkorb hob sich nicht, und er schlug auch nicht plötzlich die Augen auf, deren Farbe sie bereits genau kannte. Er lag unbeweglich da.
Ista schluckte einen enttäuschten Schrei herunter, verbarg ihre Verlegenheit, richtete sich auf und gewann ihre Stimme zurück. »Wie du siehst, hilft es nichts.« Eine närrische Hoffnung und ein närrisches Versagen.
»Hm«, sagte Goram. Seine Augen waren schmal, und er starrte sie an. Auch er blickte enttäuscht drein, aber keinesfalls verzweifelt. »Muss was anderes sein.«
Lasst mich in Ruhe. Das ist zu schmerzhaft.
Liss, die dabeistand und das Schauspiel beobachtete, warf Ista einen Blick stummer Entschuldigung zu. Es schien ein kleiner Vortrag angebracht, später, über die Pflichten einer Zofe, Aufdringliche ebenso von ihrer Dame fern zu halten, wie naive und merkwürdige Personen.
»Aber Ihr seid die, von der er immer geredet hat«, wiederholte Goram hartnäckig. Wie es schien, gewann er seine Dreistigkeit zurück. Oder das Scheitern ihres Kusses hatte seine Ehrfurcht vor ihr gemindert. Schließlich war sie ja nur eine verwitwete Königin, und offensichtlich nicht stark genug, die nahezu Toten mit einem Atemzug ins Leben zurückzuholen. »Nicht so groß, das Haar hängt in wirren Locken am Rücken runter, graue Augen, das Gesicht stets unbewegt – ernst, er sagte, Ihr seid ernst.« Er musterte sie von oben bis unten und nickte kurz, als wäre er zufrieden mit ihrer Ernsthaftigkeit. »Genau die.«
»Wer hat mich so beschrieben?«, wollte Ista aufgebracht wissen.
Goram stieß mit dem Kopf in Richtung des Bettes. »Na, er.«
»Wann?« Istas Stimme klang schärfer, als sie beabsichtigt hatte. Liss
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