Paladin der Seelen
Rangfolge des Leids. Als sie Lord Arhys’ Verwandtschaft zu dy Lutez entdeckt hatte, hatte sie zunächst vermutet, dass die Götter damit ein weiteres Mal über sie zu Gericht sitzen wollten, für ihren lange vergangenen kaltblütigen Mord und ihre Sünde, die sie dy Cabon damals in Casilchas gestanden hatte. Sie hatte befürchtet, dass sie ein weiteres Mal durch all diese alte Schuld geschleift werden sollte: Holt einen Eimer Wasser für die ertrinkende Frau.
Aber jetzt … Ihr kam es vor, als wären ihre Erwartungen spöttisch vereitelt worden. Nicht sie selbst, sondern ein anderer stand im Zentrum der göttlichen Aufmerksamkeit. Ihre Lippen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln. Und sie war nur … was? In Versuchung geführt worden, sich einzumischen?
Versucht worden – ja, das war sie ganz bestimmt. Mit seinem lüsternen Kuss hatte der Bastard sie offensichtlich einstimmen wollen. Seine tastende Zunge hatte eine rätselhafte Botschaft gesandt, aber diesen Teil davon hatte sie deutlich verstanden, mit Körper und Geist.
Was machte es für einen Sinn, diesen schlummernden Hunger zu wecken, hier und jetzt? Was macht es überhaupt für einen Sinn? Im provinziellen Valenda waren niemals irgendwelche Köstlichkeiten aufgetischt worden, die der Begierde wert gewesen wären, selbst wenn der Fluch sie unterhalb der Taille nicht ebenso gelähmt hätte wie oberhalb. Man konnte ihr kaum einen Verrat an ihren weiblichen Pflichten vorwerfen, weil sie sich dort nicht verliebt hatte.
Sie versuchte, sich dy Ferrej als Objekt der Begierde vorzustellen, oder einen anderen Edelmann aus dem Gefolge der Herzogin. Sie schnaubte. Meinetwegen. Eine sittsame Dame hielt den Blick ohnehin stets gesenkt. Das hatte man ihr beigebracht, seit sie elf Jahre alt geworden war.
Arbeit hatte der Bastard gesagt.
Nicht Liebschaft.
Aber was für eine Arbeit? Heilung? Ein verlockender Gedanke. Aber wenn es das war, so war es scheinbar nicht durch einen Kuss zu erreichen. Vielleicht hatte sie bei ihrem ersten Versuch nur etwas übersehen, etwas Offensichtliches. Oder etwas Verborgenes? Etwas Grundlegendes. Etwas Obszönes? Sie hatte kaum den Mut für einen zweiten Versuch. Kurz wünschte sie sich, der Gott hätte sich ein wenig unverhüllter ausgedrückt.
Aber so katastrophal, wie die Lage bereits war – konnte selbst sie es noch schlimmer machen? Vielleicht hatte man sie nach demselben Grundsatz hergeschickt wie junge Heiler, die ihre ersten Behandlungsversuche und neue Medikamente an hoffnungslosen Fällen auszuprobieren pflegten, damit man ihnen für ihr – normalerweise unausweichliches – Scheitern keinen Vorwurf machen konnte. Die Sterbenden, die findet man in Porifors. War diese überschaubare häusliche Tragödie ein kleines Übungsstück? Zwei Brüder, eine unfruchtbare Ehefrau, eine Burg … Das war vielleicht eine lösbare Aufgabe für sie. Nicht wie die Zukunft eines Königreichs, oder das Schicksal der Welt. Nicht wie das erste Mal, als die Götter sie in ihre Dienste genommen hatten.
Aber warum schickst du mich aus, um ein Gebet zu beantworten, wenn du genau weißt, dass ich ohne dich überhaupt nichts erreichen kann?
Daraus den folgerichtigen Schluss zu ziehen, war nicht besonders schwierig.
Solange ich mich dir nicht öffne, kannst du nicht einmal ein Blatt anheben. Solange du nicht in mir bist, kann ich nicht … was?
Ob ein Tor ein Durchgang war oder ein Hindernis, hing nicht von dem Material ab, aus dem es gefertigt war, sondern von der Perspektive. Vom freien Willen des Tores, wenn man so wollte. Alle Tore ließen sich in beiden Richtungen durchschreiten. Sie konnte das Tor nicht einen Spalt weit öffnen und hinausblicken und immer noch darauf hoffen, die Festung zu halten.
Aber ich kann nichts sehen …
Sie verfluchte die Götter. In fünf Verspaaren, in wütender Parodie eines alten Gute-Nacht-Gebets ihrer Kindheit. Sie drehte sich zur Seite und zog sich das Kissen über den Kopf. Das ist keine Auflehnung. Das ist nur Zappelei.
Wenn irgendein Gott durch ihre Träume gestreunt war, erinnerte Ista sich nicht mehr daran, als sie in dieser Nacht wach wurde. Trotz der Wahngebilde, die den Geist beunruhigten, musste der Körper immer noch der Notdurft nachkommen. Ista seufzte, streckte die Füße aus dem Bett und öffnete den schweren hölzernen Fensterladen, um ein wenig Licht einzulassen. Es ging auf Mitternacht, schloss sie aus dem silbernen Schimmer des unförmigen Mondes. Der Vollmond war nun deutlich
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