Paladin der Seelen
gehaltenem Schwert. Seine Kiefermuskeln spannten sich an, als sein Blick über die Schützen glitt. Ein Mundwinkel hob sich zu einem merkwürdigen Lächeln. Anscheinend dachte er daran, wie wenig diese glitzernden Bolzen ihm anhaben konnten, sollte er sich dazu entschließen, herabzuspringen und anzugreifen. Doch das Lächeln wurde säuerlich, und er biss die Zähne zusammen, als er den Gedanken zu Ende führte, bis zu den unausweichlichen Folgen. Ganz langsam senkte er die Spitze der Klinge.
Ein Armbrustschütze bedeutete ihm, die Waffe herunterzuwerfen. Arhys blickte auf die Armbrustbolzen, die auf Ista gerichtet waren, und gehorchte. Die Klinge fiel in den Kies. Ein Jokoner hob sie auf, und Arhys trat freiwillig vom Kutschbock herunter. Noch immer verzichteten die jokonischen Soldaten darauf, ihn zu ergreifen – oder fürchteten sich.
Zwei weitere grün gekleidete Träger halfen einer kleinen, benommen wirkenden Frau in dunkelgrünen Seidengewändern unter dem schief sitzenden Baldachin der Sänfte hervor.
Ista sog scharf die Luft ein.
Ihr zweites Gesicht blickte auf eine Seele, wie sie nie zuvor eine gesehen hatte. Die Seele war aufgewühlt und brodelte an den Randzonen des Körpers der Frau in grellen Farben, doch zur Mitte hin wurde sie dunkler und schließlich so schwarz, dass Ista den Eindruck hatte, um Mitternacht in eine schwarze Quelle zu blicken. Doch diese Schwärze war nicht leer: Schwache farbige Linien strahlten von dem bodenlosen Abgrund in alle Richtungen aus – ein verstricktes Netz, das sich wand und pulsierte. Ista musste sich zwingen, diesen überwältigenden Eindruck ihres zweiten Gesichts zu verdrängen und die Äußerlichkeiten der Frau wahrzunehmen.
Sie bot einen eigentümlichen Anblick, eine Mischung aus Vornehmheit und Reichtum, Farblosigkeit und Alter. Sie war nur wenig größer als Ista selbst. Glanzloses, graubraun gewelltes Haar war ineinander geflochten zur roknarischen Hoffrisur, zusammengehalten von Schnüren voller funkelnder Juwelen in Gestalt kleiner Blüten. Ihr Gesicht war blass und faltig, frei von Schminke oder Puder. Ihr Kleid bestand aus vielen Lagen Stoff und war mit Garnen aus goldenen und schimmernden Seiden bestickt, die ineinander greifende Vögel darstellten. Ihr Körper war zierlich, mit schlaffen Brüsten und herabhängendem Bauch. Ihr Mund zeigte einen zornigen Ausdruck. Ihre blassen blauen Augen glühten, als sie sich schließlich Ista zuwandten.
Ein junger Offizier ritt auf einem unruhig tänzelnden Pferd heran. Er hielt, schwang sich neben der Frau aus dem Sattel und ließ die Zügel fallen, die sofort von einem Soldaten aufgefangen wurden, der herbeieilte. Der Offizier starrte Ista wie gelähmt an. Das Gold und die Juwelen, mit denen das Zaumzeug seines Pferdes besetzt war, verrieten mehr über seinen hohen Rang als der Schmuck auf seiner eigenen Kleidung, obwohl er eine goldgesäumte grüne Schärpe über der Brust trug, die mit einer Reihe fliegender weißer Pelikane bestickt war. Er hatte ein hübsches Gesicht mit hohen Wangenknochen, und das dicht an seine Kopfhaut geflochtene Haar leuchtete golden in der Mittagssonne.
Und seine Seele war verloren in einem dichten violetten Schleier, der sich bis an die Grenzen seines Körpers erstreckte …
Sie haben einen Zauberer. Anscheinend lag hier, vor Istas innerem Auge, der Ursprung dieses Aufblitzens chaotischer Macht, das die Sicherungsstifte der Achse hatte herausgleiten und die hinteren Räder abspringen lassen: Die Farben im Körper des Mannes pulsierten und zuckten immer noch, wie ein Nachhall der freigesetzten Kräfte. Und doch, während Ista zu ihm hinschaute, schien das dämonische Licht zu schrumpfen, sich zurückzuziehen.
Mit gezogenen Klingen wurden der Page und das Kammerfräulein aus dem hinteren Teil des Wagens herausgetrieben und mussten sich zu Arhys stellen. Sie klammerten sich aneinander fest. Der Graf schaute kurz unter halb geschlossenen Augenlidern zu ihnen, als wollte er sie bestärken. Dann wandte er sich wieder der alten Frau und dem Offizier zu. Illvin und die Ritter der Tochter waren nirgendwo zu sehen. Verstreut? Gefangen? Getötet?
Ista wurde sich ihrer schlichten Reitkleidung bewusst, die ohne Schmuck oder andere Hinweise auf ihren Rang war. Ihr Gesicht war gerötet, verschwitzt und verdreckt. Allzu vertraute Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Konnte sie als Kammerfrau oder Dienstbotin durchgehen? Konnte sie den Wert dieser Beute vor ihren Feinden verbergen, ihre
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