Paladin der Seelen
Unaufmerksamkeit zur Flucht nutzen? Oder würde sie das nur zu einem billigen Leckerbissen für die jokonischen Truppen machen, um geschunden und dann gleichsam weggeworfen zu werden wie das unglückliche Dienstmädchen der reichen Frau aus Rauma?
Das Auge des dämonenbesessenen Offiziers fiel auf Goram, weitete sich für einen Moment, verengte sich dann nachdenklich. Oder war es ein Wiedererkennen? Die Miene des Mannes war nachdenklich, nicht aber verwirrt. Er sieht Gorams verwüstete Seele. Doch es überrascht ihn nicht. Sein Blick wanderte weiter zu Arhys, und diesmal riss er staunend den Mund auf.
»Mutter, sie strahlt in furchtbarem Licht, und ihr Wächter ist ein Toter!«, sagte er in Roknari zu der Frau neben ihm. Er musterte Ista genauer. Sein Blick wurde furchtsam, als würde er sich fragen, ob sie Arhys’ scheinbares Wunder der Wiederbelebung bewirkte. Als würde er sich ausmalen, dass sie noch weitere untote Leibwächter verborgen hielt, die jederzeit aus dem Schmutz der Straße zu ihren Füßen hervorbrechen konnten.
Das muss die Fürstinnenwitwe Joen selbst sein, erkannte Ista voller Schrecken. Und Fürst Sordso. Der aufrechte, schlanke junge Mann sah im Augenblick gar nicht nach einem Säufer aus. Und doch – war dieser aufmerksame Krieger überhaupt Sordso? Das dämonische Licht schien die vollständige Herrschaft über ihn zu haben. Er tat einen Schritt zurück. Die Frau packte seinen Arm, ihre Finger gruben sich wütend ein.
»Sie trägt einen Gott in sich! Wir sind verloren!«, schrie er entsetzt und starrte Ista verschreckt an.
»Sie tut nichts dergleichen«, zischte die Frau ihm ins Ohr. »Das sind Rückstände. Sie ist kaum in der Lage, ihr zweites Gesicht aufrechtzuerhalten. Ihre Seele ist voller Narben und Störungen. Sie hat Angst vor dir .«
Da hatte sie Recht. Istas Mund war trocken; sie fühlte ein Pochen im Kopf und trieb auf einer wogenden See der Angst.
Die blauen Augen der Frau wurden schmal und glühten vor Triumph. »Sordso, schau sie an! Das ist Ista selbst, genau wie sie uns beschrieben wurde! Die Hälfte der Beute, für die wir gekommen sind, wurde uns jetzt schon in die Hände gespielt! Das ist ein Geschenk von den Göttern selbst!«
»Es tut weh, sie anzuschauen!«
»Nein, sie ist nichts. Du wirst mit ihr fertig. Ich werde es dir zeigen. Tu es jetzt!« Sie hielt den Arm des jungen Mannes im klauenartigen Griff ihrer Hand und schüttelte ihn. »Überwältige sie.« Eine der sich windenden Lichtschnüre krümmte sich aus dem dunklen Innern ihres Leibes, schien heller zu werden, aufzulodern. Ihr anderes Ende mündete in Sordsos Leib wie eine obszöne Nabelschnur.
Der junge Mann befeuchtete seine Lippen. Das violette Licht kehrte bis an die Ränder seines Körpers zurück und wurde stärker. Er hob eine Hand und nutzte die Dichte seines stofflichen Körpers, um eine Kraft zu lenken, die nichts mit Materie zu tun hatte. Ein purpurnes Strahlen brodelte aus seiner Handfläche und wand sich wie eine Schlange um Ista.
Ihre Knie gaben nach, und sie fiel in den Staub. Ihr angerissener Schorf platzte vollends auf, und sie fühlte das Blut hervorrinnen, glitschig zwischen den schweißnassen und sich lösenden Verbänden. Als Nächstes schien ihre Wirbelsäule sich auszuhängen, Knochen für Knochen, und hilflos sank sie nach vorn. Grässliche, krampfhafte Schmerzen unter beiden Schulterblättern setzten ein. Sie hatte das scheußliche Gefühl, ihre Eingeweide würden sich auflösen, doch es war wohl nur eine Wirkung ihrer Furcht. Sie sah noch, wie Arhys’ Lippen sich öffneten und sein Blick sich vor Bestürzung verdunkelte. Dann sank sie vor allen Versammelten zu Boden, ohne einen Grund, den fleischliche Augen hätten erkennen können. Sie streckte die Hände aus, um sich aufzufangen, dann aber wurden ihre Arme ebenfalls schlaff. Ihr Kopf wurde schwerer und schwerer; sie konnte ihn gerade noch zur Seite drehen, sodass ihre weiche Wange und nicht ihr offener Mund zwischen die scharfkantigen Steine und den Straßendreck glitt.
»Siehst du? So werden sich ganz Chalion und Ibra vor uns beugen.« Joens Stimme triefte vor Befriedigung. Ista konnte ihre leichten grünen Seidenschuhe sehen, die unter den Röcken hervorlugten, und Sordsos polierte Stiefel. Die Stiefel bewegten sich unruhig. In einiger Entfernung vernahm Ista Gorams leises, tränenersticktes Schluchzen. Gnädigerweise waren die Schreie des verwundeten Pferdes verstummt. Vielleicht hatte irgendeine mitleidige Seele ihm
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