Paladin der Seelen
Majestät, natürlich nicht! Ihr seht noch immer bezaubernd aus, und …«
Mit einer scharfen Geste unterbrach sie seine fehlgeleiteten Beteuerungen. »Meine Mutter war vierzig Jahre alt, als ich zur Welt kam. Ihr letztes Kind. In diesem unglücklichen Frühling ist sie gestorben, und nun bin ich selbst vierzig. Die Hälfte meines Lebens liegt hinter mir, und die Hälfte davon wurde mir durch Fonsas großen Fluch geraubt. Die andere Hälfte liegt noch vor mir. Sollte ich nicht mehr davon erwarten als ein langes und langsames Dahinsiechen?«
»Ganz gewiss, Majestät«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich lege dieses Geständnis nun zum zweiten Male ab. Vielleicht wird das dritte Mal mich ja von meinen Sünden befreien.«
»Die Götter können vieles vergeben, wenn man aufrichtig bereut.«
Ihr Lächeln wurde so bitter wie ungeweinte Tränen. »Die Götter können Ista so oft vergeben wie sie wollen. Solange Ista sich selbst nicht vergeben kann, können die Götter sich zur Hölle scheren.«
»Oh«, machte er leise, doch treu und aufrichtig, wie er war, wagte er einen weiteren Anlauf: »Aber wenn Ihr Euch auf diese Weise abwendet, Majestät, verratet Ihr die Gaben, die Euch zuteil wurden!«
Sie beugte sich nach vorn und senkte die Stimme zu einem rauen Flüstern: »Nein. dy Cabon. Das dürft Ihr nicht wagen.«
Er lehnte sich zurück und blieb eine ganze Weile still. Schließlich verzog er wieder das Gesicht. »Also, wie geht es nun mit Eurer Pilgerfahrt weiter, Majestät?«
Sie winkte ab. »Wenn Ihr wollt, könnt Ihr den Weg nach den besten Mahlzeiten auswählen. Zieht, wohin Ihr wollt, solange es nicht zurück nach Valenda geht.« Solange ich nicht wieder Ista dy Chalion sein muss.
»Irgendwann müsst Ihr nach Hause zurück.«
»Lieber würde ich mich in einen Abgrund stürzen … aber dann würde ich erst recht in den Händen der Götter landen, und die will ich gewiss nicht wieder sehen. Dieser Fluchtweg ist mir versperrt. Ich muss weiterleben. Und weiter, immer weiter …« Ihre Stimme wurde schriller. »Alles in der Welt ist nur Staub, und die Götter sind mir ein Gräuel. Sagt, dy Cabon, an welchen anderen Ort könnte ich entkommen?«
Er schüttelte den Kopf, die Augen weit aufgerissen. Nun hatte sie ihn in Angst und Schrecken versetzt, und das tat ihr Leid. Zerknirscht tätschelte sie ihm die Hand. »Wenn ich ehrlich sein soll, haben die drei Tage unserer Reise mir mehr Trost gebracht als die letzten drei Jahre des Müßiggangs. Meine Flucht aus Valenda war zu Anfang eher … eher unwillkürlich, so wie ein Ertrinkender versucht, nach oben zu kommen, an die Luft. Doch ich glaube, ich habe wieder zu atmen angefangen. Diese Pilgerfahrt mag sich als heilsam erweisen, trotz allem, was ich bin.«
»Ich … ich … die fünf Götter mögen es so einrichten, Majestät.« Er schlug das heilige Zeichen. Doch daran, wie seine Hand an jeder heiligen Stelle zögerte, konnte sie erkennen, dass es diesmal nicht nur ein bloßes Ritual war.
Beinahe war sie versucht, ihm von ihrem Traum zu erzählen. Aber das würde ihn nur wieder in Aufregung versetzen, und davon hatte der bedauernswerte junge Mann sicher genug gehabt für einen Tag. Seine Wangen waren ziemlich bleich geworden.
»Ich werde … äh, weiter darüber nachdenken«, versicherte er, schob seinen Stuhl vom Tisch zurück und erhob sich. Seine Verbeugung war nicht der Gruß des geistlichen Beistands gegenüber seinem Schützling, und auch nicht der eines Höflings oder eines Herrn. Er verneigte sich mit der tiefen Ehrerbietung des Gläubigen vor einem lebenden Heiligen.
Ihr Arm schoss vor und fing seine Hand auf halbem Weg während seiner Geste tiefsten Respekts. » Nein. Tut das nicht. Nie wieder.«
Er schluckte. Unsicher verwandelte er seinen Abschiedsgruß in ein hastiges Nicken und floh.
5
S
ie verbrachten noch zwei weitere Tage in Casilchas und warteten das Abklingen eines heftigen Frühlingsregens ab. Die Gastfreundlichkeit bereitete Ista zunehmend Unbehagen. Die Mahlzeiten im Refektorium der Akademie strahlten keine gelehrsame Enthaltsamkeit aus, sondern wurden durch ihre Gegenwart zu Festbanketten, bei denen die Tempelvorstände und städtischen Würdenträger insgeheim um einen Platz an ihrer Tafel wetteiferten. Immer noch wurde sie als Sera dy Ajelo angesprochen, musste sich aber dazu zwingen, nicht wieder in ihre tief verinnerlichten höfischen Verhaltensweisen zu verfallen. Allem Anschein nach war ihre Ausbildung zu streng
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