Paladin der Seelen
allerdings, wo die Götter ganz sicher nicht zu finden waren – das wäre womöglich eine Pilgerreise wert!
Der stille, sonnige Nachmittag machte Ista schläfrig, und sie döste ein. Die Akolythin schlief neben ihr auf den Decken. Ihr Schnarchen war durchaus damenhaft, denn das Geräusch erinnerte an eine laut schnurrende Katze.
Ista erwachte aus dem Schlummer, zupfte eine Decke zurecht und lehnte sich wieder gegen die Baumrinde. Der knorrige Stamm war gewiss 500 Jahre alt. Ob es das Dorf schon so lange gab? Es machte den Anschein. Im Besitz Chalions, Ibras, verschiedener roknarischer Fürstentümer und jetzt wieder Chalions … Die verschiedensten Herren waren gekommen und gegangen, wie die Gezeiten an einem Strand, und der Ort dauerte einfach fort, beständig über die Jahrhunderte hinweg. Zum ersten Mal seit Tagen spürte Ista Entspannung, die der Sicherheit und Friedlichkeit dieser stillen Stunde entsprang. Sie gestattete sich, die Augen zu schließen, nur für eine kleine Weile.
Ihre Gedanken zerfaserten, schwebten an der Grenze zum Traum … Sie ging in der Burg von Valenda umher, oder vielleicht im Zangre, und stritt über Klei dung, die ihr nicht richtig passte … fliegende Vö gel … ein Raum in einer Burg, von Kerzen erhellt.
Arhys’ Antlitz, vor Grauen verzerrt, der Mund weit aufgerissen … seine Hände griffen entsetzt nach vorn. Er taumelte und gab einen heiseren Laut von sich, der irgendwo zwischen einem Stöhnen und einem Schrei begann nahm und sich zu einem kummervollen Klagelaut steigerte …
Mit einem heftigen Atemzug fuhr Ista hoch. Der Schrei klang ihr noch immer in den Ohren. Sie setzte sich auf und blickte umher, mit wild pochendem Herzen. Die Akolythin schlief weiter. Mehrere Männer saßen auf der anderen Seite des Wäldchens bei den angebundenen Pferden und spielten Karten. Andere schliefen. Niemand sonst schien diesen beängstigenden Laut gehört zu haben. Keiner wandte den Kopf zu Arhys’ Zelt. Der Diener hatte seinen Platz vor dem Eingang verlassen.
Es war nur ein Traum … oder nicht?
Doch es war viel zu greifbar, viel zu echt für einen Traum gewesen. Es hob sich von den vorherigen, verschwommenen Eindrücken so deutlich ab wie ein Fels, der aus einem Strom ragt. Ista zwang sich, sich wieder anzulehnen, doch die Anspannung blieb. Sie spürte einen Druck auf dem Brustkorb wie von straff gezogenen Schnüren, die ihr den Atem nahmen.
Behutsam streckte sie eine Hand aus und erhob sich. Niemand beachtete sie. Verstohlen huschte sie die wenigen Meter durchs Sonnenlicht bis zum nächsten Baum und dort wieder in den Schatten. Am Eingang des Zeltes hielt sie inne. Wenn sie ihn jetzt weckte – was für eine Erklärung konnte sie dann vorbringen? Und wenn er wach war? Wenn er sich gerade anzog? Wie konnte sie diese Vertraulichkeit dann erklären?
Ich muss es wissen!
Ista schlug die Zeltplane zurück und trat ein. Rasch gewöhnten ihre Augen sich an das Dämmerlicht. Das helle Tuch der Planen war dünn genug, um die Schatten der Olivenblätter ausmachen zu können, die sich auf dem Zeltdach bewegten. Das Sonnenlicht ließ die Leinenbahnen sanft erglühen, und durch Dutzende nadelfeiner Löcher stachen Sonnenstrahlen ins Innere des Zelts.
»Lord Arhys? Lord Arhys, ich …« Ihr Flüstern erstarb.
Arhys’ Tunika und seine Stiefel lagen eingewickelt auf einer Decke rechts von ihr. Er selbst lag rücklings auf einem Feldbett zu ihrer Linken, mit dem Kopf zum Eingang und nur mit einem dünnen Leintuch bedeckt. Er hatte sich einen schmalen Streifen aus grauem und schwarzem Stoff um den Oberarm gewunden, direkt auf die Haut, als Zeichen eines persönlichen Gebets an den Wintervater.
Seine Augenlider waren geschlossen und grau. Er regte sich nicht, und seine Haut war so blass und durchschimmernd wie Wachs. Und über seiner linken Brust zeichnete sich ein hellroter Fleck ab, wie ein Brandmal, und rot sickerte es durch den Leinenstoff …
Ista stockte der Atem, und ihr Schrei erstickte. Sie ließ sich neben dem Feldbett auf die Knie fallen. Fünf Götter, man hat ihn ermordet! Aber wie? Niemand hatte das Zelt betreten, seit der Diener es verlassen hatte. Hatte er seinen Herrn verraten? War er ein Spion der Roknari? Mit zitternder Hand schlug Ista die Decke zurück.
Die Wunde auf der linken Brustseite sah wie ein kleiner, dunkler Mund aus. Träge sickerte Blut daraus hervor. Möglicherweise ein Dolchstich, aufwärts zum Herzen geführt. Lebt er noch? Sie drückte eine Handfläche gegen
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