Paladin Project. Renn um dein Leben (German Edition)

»Wir haben etwas übersehen.«
    »Verdammt«, fluchte Elise leise.
    Das Bild von Beethovens Salon verschwand und wurde durch die Bergwiese vor der Pagode ersetzt. Ronnie schien jetzt noch aufgeregter. »Elise« nahm seine Hand, doch dieses Mal wich er nicht zurück.
    Plötzlich hatte Will eine Idee. Er trat neben Elise, beugte sich zum Wandbildschirm vor und sagte bestimmt: »Ronnie, das ist Elise . Sie war deine beste Freundin.«
    Ronnie hörte zu und zog die Augenbrauen zusammen, während er angestrengt nachdachte.
    »›Wie misst man die Entfernung, die ein Lächeln zurücklegt?‹«, versuchte Will es weiter.
    Die Worte ließen Ronnie zusammenfahren. Er drehte sich um, schaute hinauf zu der echten Elise und schien sie zu erkennen. Dann streckte er die Hand aus und Elise legte ihre Hand auf den Bildschirm. Als sich ihre Finger berührten, wirkte Ronnie plötzlich wachsam, lebendig und voller Energie.
    »Zeig uns, was du auf diesem Stick versteckt hast, Ronnie«, bat Elise. »Zeig uns, was wir sehen sollen.«
    Ronnie nickte und zeigte zum oberen Bildschirmrand. Ein durchsichtiges, von Eisenringen zusammengehaltenes Fass fiel herunter und landete mit einem dumpfen Aufprall auf der Holzbrücke über dem Teich. Kurz darauf füllte es sich mit einer zähen roten Flüssigkeit.
    »Was ist das?«, wunderte Nick sich.
    »Es funktioniert«, stellte Ajay fest. »Die Datei wird auf mein Tablet geladen.«
    Elise saß noch immer vollkommen reglos da, ihre Hand auf den Bildschirm und gegen Ronnies Finger gepresst. Will hatte irgendwie den Eindruck, dass sie ohne Worte miteinander kommunizierten.
    »Ich glaube, er wird irgendwo gefangen gehalten«, sagte Elise.
    »Was? Woher weißt du das?«, fragte Nick.
    »Ich weiß es einfach«, erwiderte sie. »Wenn wir die Datei öffnen, werden wir wohl sehen, wer dahintersteckt.«
    Ajay warf Will einen Blick zu und zog eine Augenbraue hoch. »Das werden wir ja gleich wissen«, meinte er, als die Datei zu fünfzig Prozent hochgeladen war.
    Brooke schaute sich fragend um. »Hört ihr das auch?«
    »Was?«, wollte Nick wissen.
    »Ja«, bestätigte Ajay. »Es ist ein …«
    »… ein Brummen«, unterbrach Elise ihn. »Es kommt aus der Landschaft auf dem Bildschirm. In der Nähe des Berggipfels.«
    Jetzt hörte Will es auch: ein dröhnendes Geräusch, das immer lauter und bedrohlicher wurde. In dem Moment sickerte ein Rinnsal gewellter schwarzer Schatten in die rechte obere Bildschirmecke; die Schatten schwebten träge durch die Luft, wie Baumwollsamen, die der Wind vor sich hertrieb. Als sie sich der Wiese näherten, verschmolzen die Gestalten zu einer pulsierenden Masse, die sich gegen den Uhrzeigersinn und immer schneller auf der Stelle drehte. Der Himmel verdunkelte sich, als die Masse an Stärke gewann, immer größer wurde und schließlich eine Trichterwolke bildete.
    »Was ist das?«, rief Nick.
    »Ich glaube, jemand hat sich in das Programm gehackt«, überlegte Ajay.
    »Aber wie?«, wunderte Brooke sich.
    »Ich weiß es nicht«, gestand Ajay. »Wir sind nicht online. Daher muss es von einem unserer Tablets kommen.«
    Die Syn-Apps flüchteten sich zum unteren Bildschirmrand. »Will« holte ein virtuelles Schweizer Messer aus der Tasche, klappte eine der Klingen aus und zog dann an dem Griff, bis dieser so lang wie eine Harpune war.
    »Was macht dein Double da?«, fragte Nick.
    »Keine Ahnung«, erwiderte Will.
    »Das gefällt mir nicht«, sagte Elise. »Wir müssen da raus.«
    Sämtliche Blicke wanderten zu dem Fass, das sich zu fast neunzig Prozent gefüllt hatte.
    »Wir haben es gleich«, verkündete Ajay.
    Die anschwellende Windhose traf auf dem Boden auf und zerstörte alles, was sie berührte – sie riss die Wiese auf, zerschmetterte die Pagode. Die Syn-Apps versuchten, dem Trümmer-Regen auszuweichen.
    »Ajay, es ist nicht sicher …«, mahnte Brooke.
    »Wenn ich den Download jetzt unterbreche, verlieren wir das, was Ronnie uns zeigen wollte … wahrscheinlich für immer«, wandte Ajay ein.
    Plötzlich rannte Ronnie auf die Windhose zu und immer weiter weg von dem Fass. Die Syn-App schrie und winkte mit den Armen. Der Wirbelsturm änderte die Richtung und verfolgte ihn.
    »Was zum Teufel macht er da?«, fragte Nick.
    »Er verschafft uns mehr Zeit«, erläuterte Will.
    »Will« folgte Ronnie zu dem Vorsprung, über den sie gekommen waren. Als die Trichterwolke Ronnie auf dem Felsen in die Enge getrieben hatte, verwandelte sie sich in einen Schwarm von Insekten, die aussahen wie