Palast der blauen Delphine
bereit; alle erhielten einen Stab, der mit Myrthenzweigen umwickelt war, dazu einen Kleiderbündel. Sie gingen barfuß. Nur ein roter Wollfaden war um ihre rechte Hand und ihren linken Fuß geschlungen.
»Wie Opfertiere, die man zur Schlachtbank führt«, murmelte Theseus.
Zwar schauten ein paar ängstlich zu ihm hinüber, aber für Befürchtungen blieb keine Zeit. Jesa und Eudore führten sie hinüber zum Tempelbezirk. Vor einem Brunnen im Vorhof machten sie halt.
»Hiermit betretet ihr das Reich der Großen Mutter«, sagte Jesa feierlich. »Keiner von euch wird es als der verlassen, als der er gekommen ist.« Sie besprengte sie nacheinander. »Wasser des Lebens, reinige sie von allen Vergehen!«
Im nächsten Vorhof hielt Eudore sie abermals an, faßte in eine Schale und bestreute ihre Köpfe mit einer Handvoll Getreidekörner. »Brot des Lebens, öffne sie für dein Mysterium! Laß sie den Tod und die Auferstehung zu neuem Leben erfahren wie das Korn, das aus der Erde sprießt!«
Die Mysten drängten sich im letzten Vorhof zusammen, der sie noch vom Heiligtum trennte. Aus der schlangengeschmückten Türöffnung trat Phaidra ihnen entgegen, in der Hand eine brennende Fackel. Langsam ging sie an jedem von ihnen vorbei, so dicht, daß ihnen der Harzgeruch in die Nase stieg. Einige Lider zuckten, aber keiner rührte sich. Sie alle hielten dem Atem des Feuers stand.
»Feuer des Lebens, entzünde ihre Herzen! Laß sie aufgehen in der allumfassenden Liebe der Einen Mutter!«
Dann gab sie den Weg ins Allerheiligste frei.
Sie gelangten in einen niedrigen Raum, der nur spärlich erhellt war. Auf einem Tisch standen Tonbecher und ein silberner Kelch. Leiser Minzduft zog durch den Raum und vermischte sich mit dem Wacholderaroma der Räucherungen.
Sie legten Stab und Bündel beiseite und erhielten einen Becher. Plötzlich stand Pasiphaë im Raum. Sie trug ein weißes Gewand, mit Silberfäden durchzogen, und die Mondsichel als Diadem.
»Nächtlich schimmernde Göttin«, betete sie. »Wachsend und schwindend mißt Du die Zeiten. Festige die Seelen der Mysten, damit sie nie vergessen, was sie in Deinen Hallen erleben durften.« Sie ließ die Arme sinken. »Wiederholt nun im Chor den Eid«, verlangte sie. »Sprecht mir nach: Gereinigt vom Wasser des Lebens, der Erde entsprossen, vom Feuer geläutert, stehe ich vor Dir. Ich bin bereit, Dein Geheimnis zu erkennen. Mein Mund bleibt verschlossen bis zum Ende aller Tage. Niemals wird meine Zunge Zeugnis ablegen über Deine Herrlichkeit. Das gelobe ich bei meinem Leben.«
Wie aus einem Mund gehorchten sie, und ihre Stimmen erfüllten den Raum.
Nur Theseus blieb stumm. Er stand günstig, nahe bei der Tür, und war halb verdeckt von seinem Vordermann. Er zitterte vor Anspannung, aber Triumph erfüllte ihn. Er hatte den Eid verweigert. Er war frei. Niemand würde ihn zum Gehorsam zwingen können.
»Trinkt jetzt!«
Zögernd führten sie die Becher zum Mund. Die Flüssigkeit war kühl und schmeckte nach Kräutern.
»Alles! Es darf nichts übrig bleiben!«
Theseus dachte einen Augenblick daran, den Rest einfach auf den Boden zu gießen. Aber er war zu langsam gewesen. Phaidra wartete neben ihm, bis er ausgetrunken hatte. »Kein Stierblut«, sagte sie leise. »Ich verspreche es dir.«
Dann ging sie nach vorn zu Pasiphaë, und beide verschwanden.
Eudore öffnete die Flügeltür zum nächsten Raum. Eine dunkle Halle erstreckte sich vor ihnen; nur ein paar Ölfunzeln brannten. Unscharf waren zu beiden Seiten breite Stufen zu erkennen. Leicht beklommen ließen sie sich darauf nieder. Manche hatten den Kopf in die Hände gestützt, andere saßen aufrecht und ruhig.
»Hört ihr das?« schreckte plötzlich ein Mädchen hoch.
Alle lauschten. »Da ist nichts«, sagten die einen. »Doch, ganz weit unten«, widersprachen die anderen. Es waren seltsame Geräusche, Brummen, Rascheln und Hüsteln, schließlich tiefes Dröhnen, das immer stärker anschwoll. Es klang, als würde unter ihnen ein riesiger Gong geschlagen.
Da war Sie, in Licht und Feuer getaucht!
Alle glaubten die Flammen zu sehen, die von ihrem Körper in alle Richtungen züngelten. »Theseus!« sagte sie laut, und er stand langsam auf. Seine Beine wollten ihm zunächst nicht gehorchen. Schweiß bedeckte seinen Körper, sein Gaumen war taub, und die Zunge lag geschwollen im Mund. Er taumelte nach vorn.
Nach ein paar Schritten wurde es leichter. Als verbinde ihn ein Seil mit der leuchtenden Frauengestalt, zog es ihn zu
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