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Palast der blauen Delphine

Titel: Palast der blauen Delphine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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ihr. Ein dichter Schleier verbarg ihr Gesicht, aber er meinte, dahinter dunkle Augen zu erkennen. Sie berührte seine Hand und zog ihn über die Schwelle.
    Um ihn herum war nichts als Licht. Es strahlte von einer silbernen Tischplatte aus, auf der ein Mörserstößel neben einer glänzenden Schale lag. Sie nahm die beiden Gegenstände in die Hand und fing an, den Stößel gleichmäßig in der Schale zu bewegen. Seine Augen weiteten sich vor Erstaunen. Die Gegenstände vor ihm begannen zu verschwimmen. Als sie wieder neue, festere Konturen bekamen, sah er zwei Menschen vor sich – einen Mann, der leidenschaftlich in eine Frau eindrang. Beide stöhnten tief, versunken in ihrem Liebesspiel. Farne wuchsen um sie herum, Bäume wiegten sich, und eine Sumpflandschaft breitete sich aus. Alles vibrierte vor Leben und Fruchtbarkeit. Der Anfang aller Dinge, schoß es ihm durch den Kopf. So hat alles begonnen.
    »Das ist das Geheimnis des Lebens. Die Liebe, die in allem wohnt, und sich stets erneuert.«
    War es ihre Stimme oder der Hauch des Windes? Theseus schloß die Augen und überließ sich dem Raunen und Flüstern. Er spürte erst Metall an seinem Fuß und seinem Handgelenk, dann weiche Hände an seinem Körper. Die Fäden waren durchtrennt.
    Wie ein Kind wurde er ausgezogen und stand nackt und frei vor ihr. Dann schmiegte sich feines Gewebe an seinen Leib. Ein Kleid, weiß wie das Licht.
    »Willkommen, Myste der Einen Mutter«, sagte die Stimme. »Dein Einweihungsweg hat soeben begonnen.«
    Einer nach dem anderen waren sie in die dämmrige Halle zurückgekehrt, weißgekleidet, befreit von ihren Fesseln. Sie waren Wiedergeborene, die das Geheimnis des Lebens in ihrem Herzen trugen. Einige hatten gesungen, andere gesummt, andere sich ekstatisch um die eigene Achse gedreht.
    Zeit und Raum erhielten ihre Gültigkeit zurück, als die Sonne aufging. Gemeinsam waren sie hinauf zur Quelle gegangen. Das Wasser schmeckte köstlich und half, den Rausch der langen Nacht zu vertreiben. Bis zum Abend waren sie in einem Dämmerzustand verblieben, der alle Geräusche gedämpft und die Farben intensiviert hatte. Dann hatte sich der Schlaf wie eine Erlösung über sie gesenkt.
    Das war mehr als sechs Wochen her. Niemand sprach mehr darüber, und manchmal schien es Theseus, als seien die Erfahrungen jener Nacht nichts als atemlose Träume gewesen. Ohnehin brummte ihm oftmals der Schädel von den vielfältigen Informationen, die es zu verarbeiten gab. Auch die anderen Mysten stöhnten unter dem anstrengenden Stoff. Keiner aus Athenai mochte zugeben, daß man bei ihnen zu Hause aufs Geratewohl lossegelte und sich von den mündlichen Berichten anderer leiten ließ. Allenfalls nahm man noch Zuflucht zu einem Seher, der die Blitze am Himmel und den Flug der Meeresvögel deutete. Hier dagegen lernten sie, sich am Zenit zu orientieren und übten den praktischen Gebrauch des Senklotes. Nachts saßen sie im Freien und schauten zu den Sternen empor, die für jeden Reisenden zu Wasser und zu Land wichtige Wegweiser waren. Die meisten von ihnen konnten nicht einmal schwimmen. Während die einheimischen Mädchen und Jungen sich wie die Fische im Meer tummelten, mußten die Mysten aus Athenai plumpe Gerätschaften aus Kork umlegen, um nicht unterzugehen.
    Mittlerweile hatten sie sich im Palast eingelebt. Sie kannten die Schwächen und Vorzüge ihrer Lehrer und wußten, daß man den temperamentvollen Kephalos leichter aus der Ruhe bringen konnte als Paneb. Aiakos hielt sich im Hintergrund; er wartete ab, wie sich die einzelnen in der Gruppe entwickelten. Dann wollte er zurück nach Phaistos segeln, um nach langen Wochen endlich wieder bei Hatasu zu sein. Dorthin waren Pasiphaë und Phaidra an Bord einer Kymbe bereits aufgebrochen.
    Theseus war seit der Abreise des Mädchens so gereizt, daß ihm sogar das Häuflein seiner Getreuen aus dem Weg ging. Keiner mochte mehr mit ihm zusammensein.
     
    Trotz der Bedenken und Einwände der Priesterinnen hatte Minos dem Athener in jedem Palast eine große Werkstatt einrichten lassen. Die bestausgestattete von allen lag in Zakros. Freilich gab es noch andere Gründe, warum Daidalos sich hier am wohlsten fühlte.
    Weit entfernt vom Palast der blauen Delphine war es ihm durch geschickte Umverteilung der zur Verfügung gestellten Mittel gelungen, sich ein eigenes kleines Reich aufzubauen, über das er uneingeschränkt herrschte. Er befehligte eine Dienerschar; ihm stand ausreichend Platz zum Wohnen und Forschen zur

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