Palast der blauen Delphine
verschwunden.
Ariadne sah ihm lange nach. Dann huschte ein kleines Lächeln über ihr Gesicht, und sie zog sich ebenfalls zum Schlafen zurück.
Am anderen Morgen gingen die Reisenden an Bord. Kaum war die Sonne aus dem Meer gestiegen, war das Wasser so spiegelglatt wie Glas. Kein Lüftchen regte sich; schlapp hingen die Segel am Mast. Die Ruderer mußten sich in die Riemen legen und häufige Pausen machen. Der Tag war heiß und so stickig, daß die Süßwasservorräte rationiert wurden. Daher atmeten alle auf, als man am späten Nachmittag in Gournia anlegte.
Die Stadt, die sich auf einer Hügelkuppe über einem hufeisenförmigen Tal erhob, war ein bedeutender Verkehrspunkt, was ihr Wachsen begünstigt hatte. Der große Gebirgsblock im Osten Kretas machte die Küste schwer zugänglich; daher wurden die meisten Waren mit dem Schiff nach Gournia und von dort über Land zur Südküste transportiert.
Hier waren sie in einer komfortablen königlichen Villa untergebracht, ein Stufenbau, errichtet aus Kalkstein. Alles war auf ihre Ankunft vorbereitet: die Decken aufgeschlagen, Bottiche mit frischem Badewasser eingelassen, ein leichtes Mahl zubereitet.
An diesem Abend gab es keine Andacht. Pasiphaë zog sich gleich nach der Ankunft zurück, und auch Phaidra blieb der Tafel fern. Aiakos hatte noch am Hafen zu tun und ließ die Mysten mit Jesa und Eudore allein. Sofort benutzte Theseus die Gelegenheit. »Laßt euch nur einlullen von ihren Speisen und ihrem Wein«, höhnte er. »Merkt ihr nicht, was sie vorhaben? Einfangen wollen sie uns mit ihren Gemälden und Badehäusern! Nichts als Weiberkram, der nicht zu echten Athenern paßt!«
Die meisten aßen schweigend weiter. Hernippos schaute sogar ärgerlich zu ihm hinüber. Ein paar seiner Kameraden aber hatten eifrig genickt. Theseus spürte, daß er plötzlich die Aufmerksamkeit aller genoß. »Sie werden ihr wahres Gesicht erst zeigen, wenn wir als Gefangene am Ende der Welt sitzen!« fuhr er fort. Erystenes und Daidochos, die stilleren aus seiner Gefolgschaft, musterten die Runde herausfordernd. Seine Worte schienen sie mutig gemacht zu haben.
»Stammt deine Mutter Aithra nicht aus Troizen?« Eudore hob ihren schmalen, blonden Kopf und sah ihn an. »Liegt das nicht ein ganzes Stück von Athenai entfernt?«
Einige der jungen Kreter kicherten, und auch ein paar attische Mädchen begannen zu prusten. »Was hat das damit zu tun?« erwiderte Theseus patzig. Er konnte nicht verhindern, daß er dabei rot wurde.
»Für weibische Kreter, wie du sie zu nennen pflegst, ist jede Mutter heilig«, gab Jesa bedächtig zur Antwort. »Egal, woher sie kommt. Bei uns lehren die Mütter ihren Kindern Achtung vor allen lebenden Wesen. Es liegt an dir, wenn du eine Herabsetzung darin siehst.«
Viele lächelten; Theseus stieß heftig seinen Schemel zurück und verließ wütend den Speisesaal.
Als sie weiter nach Osten kamen, wurde das Blau des Himmels tiefer und durchsichtiger. Zakros erreichten sie in der größten Mittagshitze. Der hiesige Palast lag nicht weit vom Hafen entfernt. Sie blieben vor dem Tor stehen, dessen Giebel von einem steinernen Doppelhorn geziert war. Theseus deutete nach oben. »Das ist der grausame Stierkult, dem sie huldigen«, sagte er gedämpft. »Keine Angst, ich werde nicht zulassen, daß auch nur ein einziger von euch geopfert wird.«
Jesa und Eudore tauschten vielsagende Blicke, hielten sich aber mit Kommentaren zurück. Sie überwachten das Ausladen des Gepäcks; die Verteilung der Zimmer überließen sie Aiakos. Die Kulträume waren im Westflügel untergebracht. Die Mysten wohnten im Osttrakt.
Schon am nächsten Morgen begann die Fastenzeit. Die Spannung innerhalb der Gruppe stieg, als der Nachmittag des dritten Tages angebrochen war. Ein paar Athener versuchten, ihre kretischen Kameraden auszufragen, was sie bei Einbruch der Nacht erwartete. »Keiner, der das Mysterium selbst erlebt hat, hat jemals auch nur ein Wort darüber verloren«, erwiderte ein Mädchen aus Chalara. Sie machte ein nachdenkliches Gesicht. »Der Verrat an der Göttin wäre schlimmer als der Tod.«
Theseus runzelte die Stirn. »Nicht einmal ihren eigenen Kindern vertrauen sie«, raunte er. »Wer weiß, welche Abscheulichkeiten sie uns antun werden!«
Jeder schien den Augenblick herbeizusehnen, in dem die Sonne endlich im Meer versinken würde. Als sich der Himmel orangerot färbte, hatten sie ihr Bad bereits beendet. Für jeden lag ein schwarzes Gewand mit roter Schärpe
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