Palast der blauen Delphine
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Die großen Dinge sind oft verblüffend einfach, dachte Asterios. Ich werde es ihnen so sagen, wie Merope mir es damals erklärt hat. Niemand verstand sich besser darauf als sie. Er setzte sich zwischen sie.
»Ich möchte euch von der Liebe erzählen«, sagte er. »Sie ist die größte Kraft, die unser Leben regiert. Oft erleben wir sie als unüberbrückbaren Gegensatz, der uns leiden läßt, als männlich und weiblich. Die Heilige Hochzeit heilt diesen Schmerz. Das Weibliche ist der Ursprung, der Grund allen Seins; das Männliche das Hervorgebrachte und damit sein Spiegelbild. Sie, die Frau, ist der allumfassende Himmel; er, der Mann, die Sonne, ihr Feuerball. Sie ist das Rad, er der Reisende. Verschmelzen sie in Hingabe, entsteht die eine, grenzenlose Liebe, die das Leben bedeutet.«
Keiner lachte mehr. Asterios spürte, daß er sie erreicht hatte.
»Sehr schwierig, die richtigen Worte für etwas zu finden, was man nur fühlen kann«, lächelte er. »Versucht nicht zu ergründen, was ihr seht. Seid offen und laßt eure Herzen atmen. Dann werdet ihr verstehen.«
Er blieb noch eine Weile mit Hemera an der Türe stehen. Theseus warf ihm bitterböse Blicke zu. Asterios aber unterhielt sich weiter mit ihr und gab seinen Helfern letzte Anweisungen. Für die Mysten standen Karren vor dem Palast bereit. Viele der Frauen waren trotz der sengenden Temperaturen schon zu Fuß aufgebrochen. Bei Einbruch der Dunkelheit würden sie in einer langen Prozession zur Bucht ziehen. Dorthin, wo das Weidengestell für die Himmelskuh bereitstand.
»Ich bin schwanger.« Im ersten Moment hatte Theseus gehofft, sich verhört zu haben. Aber ein Blick in ihre glänzenden Augen hatte ihn eines Besseren belehrt. »Ich bekomme ein Kind. Dein Kind. Unser Kind.« Wie betäubt hatte er die Nachricht aufgenommen. Sie hallte in ihm nach, ein dumpfes Echo, das sich mit dem Knarren der Räder vermischte. Die Gefährte kamen nur langsam vorwärts.
Von überall her strömten sie, Scharen von Frauen und Männern, alte, junge, kleine Mädchen und Jungen. Festlich gekleidet, mit Gürteln und Borten geschmückt; viele Frauen trugen Blüten im Haar wie Bräute, die sich für ihren Liebsten herausgeputzt hatten. Duftwolken stiegen von ihren erhitzten Körpern auf und vermischten sich mit dem Aroma der durstigen Pflanzen. Aber da gab es noch etwas, was er unter Jasmin und Rosenwasser roch, etwas Erdiges, Moschusartiges, stärker und ursprünglicher als alle Salbungen. Es drang in seine Nase, tief in seine Haut, reizte ihn, forderte ihn heraus.
Er wehrte sich dagegen, wollte sich nicht einlullen lassen. Feinde waren sie – auch diese kretischen Weiber! Auf einmal konnte er das Meer riechen, und mit seinem salzigen Atem, stärker als ihre schwülen Düfte, brach eine Welle von Heimweh über ihn herein. Auch daran war sie schuld, diese Kreterin. »Laß uns fortgehen!« hatte sie ihn beschworen. »Ich will nicht, daß unser Sohn auf dieser Insel zur Welt kommt. Er soll ein richtiger Mann werden, ein Mann wie sein Vater. Bring mich nach Athenai, Theseus!«
»Und wie stellst du dir das vor? Ich muß noch viele Jahre in diesem Gefängnis ausharren. Wahrscheinlich bin ich dann halbtot, oder, was noch schlimmer ist, zum Kreter geworden.«
»Und wenn wir fliehen?«
»Wie lange würde dein Vater brauchen, um uns auf einer seiner schnellen Kymben einzuholen – zwei Tage, vielleicht drei?«
Nein, Flucht war keine Lösung. Jedenfalls nicht unter diesen Umständen. Natürlich hatte er selbst diese Möglichkeit schon erwogen, hundert-, nein, tausendmal. Aber der Sohn des Aigeus wollte die Insel seiner Feinde nicht mit leeren Händen verlassen. Wenn er gehen würde, dann mit einem Schatz, für den zu kämpfen und zu fliehen es sich lohnte.
Als sie die Karren verließen und mit den anderen hinunter zum Strand gingen, schaute er sich vergeblich um. Nirgendwo war der Priester mit den goldgefleckten Augen zu entdecken. Wahrscheinlich trug er bereits die Stiermaske, von der Ariadne ihm erzählt hatte.
Sie würde als einzige heute dem Ritual fernbleiben. Um ihre Schwangerschaft zu verstecken, hatte Ariadne sich freiwillig zum Dienst im heiligen Hain bereit erklärt. Schon im Gehen hatte sie sich noch einmal zu ihm umgewandt. Ihr Gesicht war voller geworden, ihre Augen hatten einen hingebungsvollen Glanz, der ihn an ein Schaf erinnerte. Er konnte sich schon jetzt vorstellen, wie rasch ihr runder Bauch ihn abstoßen würde. »Willst du noch immer wissen,
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