Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Palast der blauen Delphine

Titel: Palast der blauen Delphine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
Vom Netzwerk:
und schloß das Fenster. Danach griff sie zum Feuerstein, um die Funken für die Näpfchenlampe zu schlagen. Zwölf kleine Lichter flammten auf und vertrieben die blauen Schatten der Dämmerung. Sie runzelte die Stirn, als sie das Durcheinander auf ihrem Tisch sah. Alles, was ihr im Lauf des Nachmittags lästig geworden war, hatte sie dort abgelegt: einen angebissenen Apfel, einen Becher stärkenden Holunderwein; ihre Ohrgehänge, in der Form von Bienenwaben, die goldenen Armreifen und den Gürtel, an dessen Enden sie Kaurimuscheln befestigt hatte, um ihn lockerer binden zu können. Ihr Bauch wuchs; sie konnte keinerlei Einschnürungen mehr ertragen. Bald schon würde der Sohn, den sie trug, sich nicht mehr verstecken lassen.
    Gedankenverloren spielte sie mit dem bunten Band, als ihr Blick auf eine der Muscheln fiel. Etwas Schwarzes lief auf dem Weiß. Eine kleine Spinne hatte ihren Weg durch das halbgeöffnete Fenster gefunden, war über den Tisch gekrabbelt und hatte begonnen, ihr Netz zu spinnen. Ein feiner, leicht klebrig schimmernder Faden führte von außen direkt in die Windungen hinein. Vorsichtig nahm Ariadne die Muschel in die Hand. Die winzige Spinne stockte, bevor sie unbeirrt ihren Weg fortsetzte und im Inneren der Spirale verschwand. Im Verborgenen würde sie ihre Arbeit fortsetzen.
    Natürlich – das war es, wonach sie gesucht hatte! Eine Art Nabelschnur, die den Eindringling so sicher mit dem Ausgang verband, wie das Kind im Bauch mit der Mutter. Ein Faden, der sich durch das Labyrinth schlängelte, weich und fest zugleich – es gab keine bessere Möglichkeit!
    Sie war überrascht, daß sie sich nach ihrer Entdeckung nicht fröhlicher fühlte. Sie blieb sitzen, den Muschelgürtel noch immer in der Hand, und starrte vor sich hin. Eine Welle von Traurigkeit überflutete sie. Plötzlich hatte Ariadne das Gefühl, ihre eigene Nabelschnur für immer durchzuschneiden. Bald schon wäre sie eine Ausgestoßene. Wenn sie Theseus ins Labyrinth verhalf, war Kreta für immer für sie verloren. Dann lag ihre Zukunft wirklich ganz in Theseus’ Hand.
    Es kostete sie Anstrengung, die schwarzen Gedanken zu verscheuchen. Du willst es, betete sie sich selbst vor. Du brauchst es. Du hast es ihm versprochen. Du mußt weiter daran arbeiten. Denn die Idee war erst ein Anfang. Mindestens ebenso schwierig würde es sein, solch einen endlosen, geschmeidigen Faden zu bekommen. Fieberhaft überlegte sie. Aber es gab nur einen Ausweg. Auch wenn ihr die Vorstellung wenig angenehm war, so wußte sie nur einen einzigen Menschen auf der Insel, der dafür in Betracht kam: Daidalos. Der Athener.
     
    Zurück in Knossos, wartete Daidalos den ersten Arbeitstag seiner Schmiede ab und grub erst am Abend die versteckten Eisenplatten aus. Morgen mußten sie erneut ihre Tauglichkeit auf dem Amboß beweisen. Er hütete sich, voreilig zu sein. Der Erfolg konnte auch ein einmaliger Zufall sein. Jetzt kam es darauf an, ob er beliebig oft wiederholbar war. Aber sein Instinkt sagte ihm, daß er auf der richtigen Spur war. Er zog die wenigen Eisenplatten hervor, die er in Phaistos unter erbärmlichen Umständen hatte produzieren lassen. Dort hatten ihn Mangel und Hitze auf eine Idee gebracht. Wenn feuchte Erde weiches Eisen zerstörte und nur den härtesten Kern übrigließ, mußte es auch noch andere Methoden geben, um Gleiches zu erreichen. Er war nacheinander die vier Elemente durchgegangen und nach dem Aussondern von Wasser und Luft schließlich auf die Idee verfallen, Eisen im Holzkohlenfeuer zu rösten. So mußte er nicht monatelang auf gewünschte Resultate warten – er war es so müde zu warten!
    Mehr denn je vermißte er die Stunden in Patanes Haus. Selbst die Arbeiten an seinem Flugapparat machten ihm keinen Spaß mehr, obwohl er in der Zwischenzeit erstaunlich weit gekommen war. Der Korb aus Weidenruten, der zwei Menschen fassen konnte, war bereits geflochten und mit ölgetränktem Papier ausgeschlagen. Seit längerem brütete Daidalos über der Flügelkonstruktion, die ihm jedoch immer wieder neue Schwierigkeiten bereitete. Ein anderes ungelöstes Problem war das Material, aus dem der Ballon gefertigt werden sollte. Alle ihm bekannten Stoffarten hatten sich als zu schwer erwiesen. Nun ruhte seine letzte Hoffnung auf der Ware aus Phönizien, von der ihm ein Händler einige Ballen in Aussicht gestellt hatte. Das sagenhafte Schmuggelgut sollte von weit aus dem Osten stammen und so geschmeidig und leicht wie Gefieder sein. Daidalos hatte

Weitere Kostenlose Bücher