Palast der blauen Delphine
so gewaltsam wie in seinen ersten Tagen als Seher. Sein Nacken wurde taub. Er erstarrte.
Er kommt langsam den dunklen Gang entlang, leicht gebückt, als hätte er Angst, sich oben am Stollen anzustoßen. Er keucht, atmet heftig.
Sein Leib ist in der Mitte leicht gedunsen. Er trägt etwas mit sich, woran er immer wieder ungeduldig zieht. Eine Waffe behindert sein Vorwärtskommen, obwohl sie fest an seinen Körper gebunden ist.
Seine Erschöpfung ist so groß, daß sie jeden Augenblick in Wut umschlagen kann. Er weiß, daß es nicht mehr weit sein kann.
Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Das war nicht der Myste, auf den er wartete!
Er bleibt plötzlich stehen, als könne er spüren, was in ihm vorgeht. Er ist wachsam und angespannt, die sichelförmige Narbe auf seiner Wange gerötet. Er schnuppert wie ein Tier, das die Gefahr wittert. Er lächelt, aber seine Augen bleiben kalt.
Das unsichtbare Band, das zwischen ihnen geknüpft ist, läßt ihn nicht lange stillstehen. Drängt ihn zum Weitergehen. Er kann nicht ausruhen. Zielstrebig kämpft er sich voran. Er ist beinahe am Ziel.
In dem kleinen Raum roch es nach Verrat. Aber es blieb keine Zeit mehr, die Räucherpfanne zu entzünden. Asterios konnte sein Schnaufen und Keuchen schon hören, obwohl der Ketzer noch viele Windungen entfernt war.
Gehetzt schaute er hinter sich. Da waren nur der Dreifuß, der kleine Salbeibehälter, ein paar Feuersteine zum Funkenschlagen. Und die Näpfchenlampe. Wenn er nur einen Docht entzündete, wäre der Felsenraum schwach erleuchtet. Hell genug, um den Eindringling zu irritieren. Aber auch dunkel genug, um ihm einen Vorteil zu verschaffen.
Was konnte er sonst noch tun?
Er besaß keine Waffe. Der Priester der Großen Mutter hütete das Heiligtum mit seinem Leib.
Aber er hatte das silbrige Schwert des anderen viele, viele Male gesehen. Er war vorgewarnt. Er würde mit anderen Mitteln kämpfen müssen.
Er begann zu zittern.
Er stürmte herein. Blieb stehen, überrascht über das fahle Licht. Seine Pupillen zogen sich zusammen. Asterios konnte aus seiner Ecke heraus jede seiner Bewegungen verfolgen.
Die Wände glitzerten, als bestünden sie ganz aus dunklen Kristallen. Theseus starrte auf den kegelförmigen Spalt. »Komm raus!« rief er. »Ich weiß genau, daß du dich dort hinten versteckst.«
Nichts geschah. Das Dröhnen der Stille verstärkte sich. Dann hörte er ein leises Scharren, dem ein schürfendes Geräusch folgte. Waren es Hufe? Rauhe Tierhaut, die gegen eine Wand rieb?
Ein Schnauben. Knacken von Horn gegen Fels.
»Zeig dich endlich!« Seine Stimme war brüchig vor Aufregung. »Oder bist du zu feige, dich mir zu stellen?«
Der Minotauros trat heraus.
Unwillkürlich machte Theseus einen Schritt zurück. Seine Hand umklammerte fester das Stichmesser. War es das düstere Funkeln der Wände? Das Glimmen der Ölfunzel? Er kam ihm größer und wesentlich kräftiger vor, als in der Nacht der Heiligen Hochzeit. Seine Schultern waren breit, sein Oberkörper muskulös. Braunes Haar kräuselte sich auf der breiten Brust. Der untere Teil der Maske verdeckte den Hals und ließ ihn dadurch geradezu voluminös erscheinen. Am Ende der Arme vermutete er unförmige Pratzen. Erst, als sie sich langsam bewegten, bemerkte er, daß es normal ausgebildete Männerhände waren.
Der Kopf mit der Maske und dem beinernen Hörnerpaar, das bedrohlich hin- und herschwenkte, hatte nichts Menschliches. Das war ein Stierschädel, der im nächsten Augenblick die Nüstern blähen und sich wütend zum Angriff senken konnte.
Theseus warf einen raschen Blick über die Schulter. Wenn er ausweichen mußte, dann in ein ungewisses Nichts. Seine Kehle wurde eng.
Dann fiel sein Blick auf den Rock, den das Monstrum trug. Sein helles Grün sah hier im Dämmerlicht wie stumpfes Silber aus. Aber er erkannte deutlich die Schlangenlinien, die sich mit Lilien abwechselten. Ein ähnliches Kleidungsstück hatte er schon an Pasiphaë gesehen. Er spürte, wie seine Angst heiß aufsteigendem Zorn wich. Ein Weiberrock! Das Ungeheuer, das vor den Augen aller die eigene Schwester geschändet hatte, wollte ihm in einem Weiberrock Furcht einjagen!
Es tat gut, wieder die Wut und den Haß zu spüren, die zusammen mit den Bildern jener Nacht für immer in ihm eingebrannt waren. Niemals würde er vergessen, was jener Phaidra angetan hatte! Als Rache für jene Nacht war der Tod fast zu wenig für ihn.
»Zieh dich aus!« zischte er heiser. »Runter mit
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