Palast der blauen Delphine
Messer? Wo steckte der andere?
Er brauchte einige Zeit, um auf die Beine zu kommen. Mußte erst wieder laufen lernen.
Angestrengt lauschte Theseus in die Dunkelheit. War da ein Atmen? Ein Schnaufen oder Röcheln?
Nichts als undurchdringliche Stille.
Er muß tot sein, schoß es ihm durch den Kopf. Ich habe ihn erstochen.
An alles erinnerte er sich. An den Stoß in den Unterleib. Den Ringkampf. Den Stein. Den mußte er ihm an den Kopf geschlagen haben.
Aber wie hatte er ihn dann umgebracht? Und wo lag seine Leiche?
Langsam ging er in die Hocke, beugte sich vor, soweit sein pochender Schädel es erlaubte. Er tastete sich vorwärts. Ein umgefallener Dreifuß, die Näpfchenlampe, ein kleiner Kräutersack. Das war alles, was er finden konnte. Seinen Wasserbeutel, aus dem er gierig trank.
Kein Toter.
Und wenn er ihn gar nicht getötet hatte?
Theseus versuchte, sich selbst zu beruhigen. Der andere mußte tot sein. Hätte er ihm sonst die Maske überlassen? Er hatte aus unzähligen Wunden geblutet und sich kaum noch wehren können. Selbst wenn er in einen der Nebengänge gekrochen wäre, weit würde er in seinem Zustand nicht mehr kommen.
Er verzog seinen Mund zu einem bösen Lächeln. Kein schöner Tod für den Hüter des Labyrinths! Vermutlich würden seine sterblichen Überreste niemals gefunden werden.
Trotz seiner Kopfschmerzen wurde sein Lächeln breiter. Zumindest kein Athener. Wenn er hier herauskam, würde keiner aus Athenai jemals wieder gezwungen werden, in dieses finstere Loch zu klettern.
Mit letzter Kraft erreichte Asterios die Schlangenpforte. Niemals zuvor waren ihm die Wege, Rampen und Gänge so verschlungen und lang erschienen. Während er sich blutend und röchelnd voranschleppte, kam es ihm vor, als greife die Erde mit tausend unsichtbaren Händen nach ihm. Gerne hätte er sich von ihnen in den ewigen Schlaf wiegen lassen. Aber er durfte nicht aufgeben. Er mußte das Labyrinth lebendig verlassen. Er mußte die anderen warnen, vor dem Ungeheuerlichen, was er gesehen hatte.
Nachdem er Theseus bewußtlos geschlagen hatte, lag er eine ganze Weile neben dem schlaffen Körper. Er wußte nicht, wieviel Zeit verstrichen war. Gedanken und Bilder glitten vorbei wie Schiffe im Nebel, Gesichter formten sich. Eines davon gehörte Hatasu. Er meinte, ihre sprechenden Augen vor sich zu sehen und erinnerte sich plötzlich daran, daß sie ihn voller Sehnsucht und Ungeduld draußen erwartete. Ein Anflug von Leben kehrte in ihn zurück. Aber er fühlte sich noch immer unendlich schwach.
Der Athener lag da wie ein Schlafender, den Mund leicht verzogen, die Wange mit der Sichelnarbe ihm zugewandt. Er war bewußtlos, schien jedoch nicht lebensgefährlich verletzt. Seit dem Kampf mußten mehrere Stunden vergangen sein. Das Öl der Näpfchenlampe war beinahe verbraucht.
Ihn hinauszuschleppen, war unmöglich. Asterios konnte ihn nur liegenlassen und versuchen, Hilfe zu holen. Falls er selbst bis zum Ausgang gelangen würde.
Sollte er ihn vorsichtshalber fesseln? Sein Blick fiel auf die seltsame Bauchbinde. Ein flaches, weißes Knäuel hing halb heraus. Asterios kroch näher. Der andere gab einen grunzenden Laut von sich, als er ihn berührte. Es konnte, es durfte nicht sein! Aber Asterios wußte plötzlich, was der Faden zu bedeuten hatte. Er verfolgte diese schimmernde Spur, die sich allmählich in der Schwärze verlor.
Sein erster Impuls war, die Nabelschnur zu kappen, die den Eindringling mit der Außenwelt verband. Theseus hatte das Heiligtum der Göttin besudelt. Ihren Priester schwer verwundet. Ihm die Stiermaske vom Gesicht gerissen. Er war ein Frevler, der den Tod verdiente. Sollte er doch hilflos in der Dunkelheit zurückbleiben und zugrunde gehen in der Erde, gegen die er sich so schwer vergangen hatte!
Aber er tat es nicht. Wenn Theseus auf diese Weise starb, würde er nie erfahren, wer ihm geholfen hatte.
Dieser Gedanke hatte ihn auf seinem qualvollen Weg zum Licht vorangetrieben. Unterwegs überfielen ihn immer wieder Zweifel, ob er richtig gehandelt hatte. Aber selbst, wenn nicht, war es jetzt zu spät, umzukehren.
Im letzten Stollen vor dem Eingangsbereich hielt er erschrokken inne, als er auf einmal an etwas Warmes stieß, das mitten im Weg lag. Seine Hände ertasteten einen Körper, Haare, ein Gesicht.
»Wer bist du?« fragte Asterios.
Er wußte es, noch bevor der andere ein ersticktes Stöhnen hervorbrachte. Das war der Myste, auf den er vergeblich gewartet hatte.
»Bist du verletzt?«
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