Palast der blauen Delphine
schwiegen.
»Viele Isis-Priesterinnen verfügen über seherische Gaben«, sagte Hatasu plötzlich. »In manchen großen Tempeln Ägyptens werden seit Jahrhunderten Methoden gelehrt, die den Umgang damit erleichtern. Meine Mutter hat einiges davon an mich weitergegeben. Ich könnte dir beibringen, was ich weiß.«
»Das würdest du tun?« fragte Asterios überrascht.
»Es wäre den Versuch wert«, antwortete sie und fühlte sich erleichtert bei dem Gedanken, ihn wiederzusehen. Diesmal allerdings würde sie die Bedingungen festlegen. »Aber du mußt in unser Haus kommen.«
Seitdem ritt er oft zu Hatasu, bevor sich die Sonne noch über der Ebene erhoben hatte. Im Lauf seiner Genesung war der heiße Sommer verstrichen, und kühlere Morgen und Abende deuteten bereits den Wechsel der Jahreszeit an. Asterios nahm ihr altes Wissen begierig in sich auf. Bei jeder ihrer Begegnungen erfuhr er sich selbst neu, und er spürte, wie Herz und Kopf ihm weit wurden. Er lernte, seinen Atem kommen und gehen zu lassen, bis sein Körper in vollkommener Ruhe entspannt war. Sie machte ihn vertraut mit den sieben feurigen Rädern des Menschen, den Kraftzentren entlang der Wirbelsäule, die sich mehr und mehr während der Übungen entfalteten. Sie lehrte ihn Achtsamkeit und Bewußtheit, und es fiel ihm immer leichter, seine Sinne zu verschließen und nach innen zu gehen.
Mit Hilfe eines großen, sechseckig geschliffenen Saphirs brachte sie ihm bei, sich in tiefe Meditation zu versenken. Asterios starrte so lange auf den Stein, bis dieser langsam in den Hintergrund trat und sich allmählich zum Symbol wandelte. Schließlich verschwand er vor seinem inneren Auge und verströmte kräftiges, leuchtendes Blau. Dann berührte ihn Hatasu, die aufmerksam seine Versenkung verfolgt hatte, an der Nasenwurzel. Unter dem sanften Druck ihrer Finger wurde die kleine Stelle heiß.
Asterios machte sich auf ins Zentrum dieser Lichtquelle und begann zu sehen. Zum erstenmal konnte er ohne Angst geschehen lassen, was auf ihn zukam. Mit leiser, beruhigender Stimme begleitete Hatasu ihn.
»Deine Fähigkeit, Dinge zu sehen, die noch nicht geschehen sind oder bereits lange zurückliegen, ist eine wertvolle Gabe. Fürchte dich nicht vor ihr, Asterios! Die Bilder beherrschen dich nicht länger. Jetzt bist du ihr Meister! Du kannst die Bilder rufen, indem du dich auf das blaue Licht konzentrierst. Und du kannst sie auch wieder gehen lassen, indem du dich bewußt nach außen öffnest. Öffne jetzt deine Augen!«
Er rieb sich die Lider und war schon auf das gewohnte Gefühl von Schwindel und tiefer Erschöpfung eingestellt, das ihn sonst immer nach dem Verblassen der Visionen erfaßt hatte. Aber es blieb aus.
Asterios erhob sich von seiner Schilfmatte und trat zu Hatasu, die ebenfalls von ihrem Hocker aufgestanden war. Im Stehen überraschte ihn immer wieder, wie klein sie war. Auf geheimnisvolle Weise zog sie ihn an, wenngleich er sich oft in ihrer Nähe wie ein unwissendes Kind fühlte. Niemals zuvor war er einer Frau begegnet, die es besser verstanden hatte, ihre Vorzüge durch Kleidung und Schmuck zu betonen. Für gewöhnlich bevorzugte Hatasu starke, ausdrucksvolle Farben; heute aber trug sie ein spinnwebfeines, lichtgrünes Plisseegewand, das von einem steifen Kragen bis auf ihre bloßen Füße fiel. Fayencen und goldene Zierplättchen waren aufgenäht; kleine Perlen aus hell- und dunkelgrünem Glas bildeten den Saum. Nicht einmal Pasiphaë besaß schönere Gewänder.
»Ich kann die Bilder jetzt kommen und gehen lassen, ohne mich gegen sie aufzulehnen oder mich vor ihnen zu ängstigen«, sagte Asterios. »Aber die Gabe allein ist nutzlos. Wie kann ich die Wahrheit, die sich mir auf diese Weise offenbart, an andere weitergeben?«
»Von welcher Wahrheit sprichst du?« Sie trank einen kleinen Schluck Wasser.
»Wie meinst du das?« fragte er irritiert zurück.
»Die Wahrheit kam nicht nackt auf die Welt«, antwortete sie, »sondern in Sinnbildern und Symbolen und wird von jedem anders verstanden. Deshalb kann die Wahrheit, die du siehst, für einen anderen Lüge sein – und umgekehrt. Du wirst erleben, daß man dich wegen deiner Wahrheit ablehnt, ja sogar haßt. Weißt du, daß du dich für einen schwierigen Weg entschieden hast?«
Asterios nickte.
»Es ist nicht einfach, mit der Wahrheit auf die richtige Weise umzugehen«, fuhr sie fort. »Die meisten Menschen brauchen ihr ganzes Leben dazu. Falls es ihnen überhaupt gelingt.«
Auch nachdem er
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