Palast der blauen Delphine
Marktflecken hatten sie die Nacht verbracht und waren schon im Morgengrauen aufgebrochen.
Die Traubenlese war vorüber, und überall auf Holzgestellen trockneten die Früchte. Sie ließen Dorf um Dorf hinter sich, wo Frauen, Männer und Kinder dunkle Trauben in großen Keramikwannen zerstampften. Überall in der Luft hing der Dunst nach Wein und Most.
Schon bald erreichten sie die ersten Hügel, die ganz allmählich in höhere Berge übergingen. Kühler Wind blähte ihre Umhänge, und das Gras unter den Hufen ihrer Pferde wuchs spärlicher. Steiler klomm der Pfad empor und schlängelte sich durch bewaldetes, weiter oben durch buschbestandenes Gebiet. Im Schutz des Hanges duckten sich vereinzelt Häuser aus Lehm und unbehauenen Steinblöcken.
Nach der Paßüberquerung kamen sie am zweiten Abend ihrer Reise in Archanes an, am Fuß des Jouchtas zwischen Weinbergen gelegen. Nach einem windigen Septembertag rissen gegen Abend die Wolkenbänke auf. Aus klarem, tiefblauem Himmel fielen die schrägen Sonnenstrahlen auf die Steinfassade des kleinen Palastes und tupften goldene Flecken auf seine Säulengänge. Der stufenförmige Bau gab den Blick frei auf die bizarr geformte Bergspitze.
Ikaros war den Blicken des Freundes gefolgt. »Dort oben, unter dem Gipfel, wird der Gemahl der Großen Mutter jeden Herbst zur Ruhe gebettet«, sagte er. »Dort gebiert ihn jeden Frühling die Göttin von neuem, wenn das Licht auf die Insel zurückkehrt.« Bevor Asterios antworten konnte, sprach er spöttisch weiter. »Früher soll es auf Kreta tatsächlich Menschenopfer gegeben haben. Heute beschränkt man sich auf eine Stoffpuppe, die man symbolisch begräbt.« Er lachte leise. »Was für ein wunderschönes Ritual! Gleichzeitig natürlich die Gelegenheit, Teile des Hofes nach Archanes zu verlegen, um im Palast und den umliegenden Dörfern alles unter Kontrolle zu haben.«
»Ist dir denn gar nichts heilig, Ikaros?«
»Wenig, fürchte ich«, grinste er. »Sehr wenig!« Er zügelte sein Pferd und ritt direkt auf die Tempelanlage zu, die sich auf der anderen Seite des Ortes an den felsigen Ausläufern des Jouchtas erhob. Widerstrebend folgte ihm Asterios.
Die Holztür ließ sich knarrend öffnen. Sie betraten einen schmalen Korridor, den Fackeln erhellten. An den Wänden standen Dutzende von kniehohen Tongefäßen. Langsam gingen sie weiter zum östlichen Tempelraum, wo man einen flachen Steinaltar mit Opferrinne aufgestellt hatte. Über allem ragte eine Statue der Göttin aus schwarzem Holz, die segnend ihre Arme ausgebreitet hatte.
Kein Mensch war zu sehen, und dennoch hatte Asterios auf einmal das Gefühl, daß sie nicht allein waren. Er drehte sich um. Es war niemand da. Trotzdem überliefen ihn Kälteschauer. Alles in ihm strebte danach, wegzulaufen. Aber eine innere Stimme forderte ihn auf, dazubleiben.
Ohne sich um Ikaros zu kümmern, schloß er seine Augen. Er wandte sich nach innen und konzentrierte sich auf das blaue Licht.
Die Luft schmeckt nach Tod. Er sieht das Opfer auf dem Altar, einen gefesselten Jüngling, nackt, bis auf einen roten Schurz. Angstschweiß glänzt auf seiner Haut.
Im Hintergrund murmeln zwei Männer hastige Gebete. Eine junge Frau, mit langem, dunklem Haar ist bei ihnen. Er sieht ihre Gestalt ganz klar, aber das Gesicht kann er nicht erkennen.
Noch einer befindet sich im Raum, ein großer Mann mit starken Brauen, der ein sichelförmiges Messer zückt. Er holt aus und durchtrennt die Schlagader des Jünglings. Hellrotes Blut füllt die Opferschale unter dem Altar.
Plötzlich prasselt ein Hagel von Fels und Steinen herab. Das Opfergefäß zerbricht; Blut sickert in den Boden. Die Erde erzittert. Fackeln fallen zu Boden; Balken fangen Feuer.
Der Tempel brennt! Die Welt zerbricht in glühende Trümmer. Das ist der Anfang vom Ende …
»Nur weg von hier!« brachte Asterios mühsam hervor. War er schuldig, an dem, was er gesehen hatte? Was hatte er getan?
»Was ist los mit dir? Du zitterst ja am ganzen Körper!«
»Spürst du nichts? Riechst du nichts? Die Steine! Die Flammen! Alles erstickt!«
Asterios rannte ins Freie und ließ sich zu Boden fallen. Ikaros kam verwirrt hinterher.
»Bist du krank? Sag doch etwas, ich bitte dich!«
Asterios schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er schließlich erschöpft. Das Zittern wich allmählich. »Ist schon vorbei. Ich möchte fort, bitte! So schnell wie möglich!«
Ikaros schüttelte ihn unsanft. »Wovon redest du, Asterios? Was ist geschehen? Hast du etwas
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