Palast der blauen Delphine
gesehen? Erzähl es mir!«
»Tote«, erwiderte er tonlos. »Unzählige. Alle werden sterben. Das Menschenopfer ist vollkommen sinnlos gewesen!« Er begann zu weinen.
»Wer muß sterben? Hörst du mich, Asterios? Ich verstehe dich nicht!«
Asterios strengte sich an, gleichmäßig zu atmen. Es kann nicht sein, dachte er entsetzt, was ich gesehen habe! Ein Menschenopfer – das ist unmöglich! Wozu soll das gut sein? Wer opfert einen Menschen? Wofür? Auf keinen Fall darf ich zu früh darüber reden. Nicht, bevor ich selbst weiß, was es zu bedeuten hat.
»Es ist nichts«, sagte er laut. »Nur eine vorübergehende Schwäche. Es geht schon wieder, wirklich! Komm, laß uns aufbrechen!«
Ikaros sah ihn ungläubig an, entgegnete aber nichts weiter. Trotzdem spürte Asterios immer wieder seinen fragenden, besorgten Blick.
Sie übernachteten in einer Herberge, wo sie auch ein Abendessen bekamen. Bald schon zogen sie sich in ihre Zimmer zurück, da sie bei Tagesanbruch weiterreiten wollten.
Asterios fand keinen Schlaf. Unruhig wälzte er sich von einer Seite auf die andere. Schließlich stand er auf, ging zum Fenster und lauschte in die Nacht hinaus. Immer noch sah er das Feuer vor sich, die Angst der Frau und der Männer im Tempel, das verbotene Opfer. Deutlich hatte er die Schale mit dem Stier vor Augen, gefüllt mit Menschenblut.
Was hatten die Bilder zu bedeuten? Hatte er etwas gesehen, das schon lang zurücklag? Oder wartete eine schreckliche Zukunft auf sie?
Sein Kopf schmerzte und pochte, er fühlte sich wie erschlagen und wagte nicht, das blaue Licht zu rufen, um sich Gewißheit zu verschaffen. Nicht jetzt, dachte er, nicht heute nacht! Ich muß frisch und erholt sein, um diese Vision ertragen zu können.
Endlich setzte vor seinem Fenster das Morgenlied der Vögel ein. Erleichtert suchte Asterios den Baderaum auf. Anschließend zog er frische Kleider an und gürtete sich mit dem silberbeschlagenen Lederband, das ihm Pasiphaë zum Abschied geschenkt hatte.
Ikaros war ebenfalls schon wach; sie beglichen ihre Zeche und saßen auf.
Die Landschaft wurde lieblicher, ein sanftes Gewoge von Höhenzügen und Hügeln, auf denen vor allem Ölbäume wuchsen. Immer öfter begegneten ihnen andere Reiter, und sie überholten Bauern und Handwerker, die mit ihren Karren zum nächsten Markt unterwegs waren.
Gegen Mittag drängte Ikaros in einem verschlafenen Weiler zur Rast. Unter einer Platane ließen sie sich weiße Bohnen und geräucherte Fische schmecken. Ihren Durst stillten sie mit dem säuerlichen Most, den man hier mit Wasser verdünnte.
Seit dem Zwischenfall in Archanes hatten sie kaum miteinander geredet. Ikaros war es, der eine Unterhaltung begann und Asterios fragte, was er von Knossos erwarte.
Asterios zuckte die Achseln. »Die anderen Mysten sind schon dort, um den Kranichtanz zu erlernen. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis ich ihn beherrsche.«
»Der Kranichtanz ist eine schwierige Kunst. Mit seiner Hilfe findest du den Weg ins Labyrinth, und – was noch wichtiger ist -, wieder hinaus. Ohne dieses Wissen wärst du verloren. Wenn du aber seine Schritte und Regeln beherrschst, gelangst du wohlbehalten ins Innere der Spirale und kommst verwandelt wieder heraus.«
»So ähnlich wie damals in der Höhle?« wollte Asterios wissen, dem bei diesen Worten wieder sein letztes Gespräch mit Hatasu in den Sinn kam. Er dachte oft an die schöne Ägypterin. Sie war so anders als Ariadne, kein reißender Fluß, der ihn alles vergessen ließ, sondern eher ein stiller, friedvoller See, der zum Verweilen einlud. In ihrer Gegenwart hatte er sich wohl und sicher gefühlt.
»Ähnlich und anders, Asterios! Das Labyrinth konfrontiert dich mit dem Geheimnis von Sterben und Wiedergeburt, dem Gesetz der ewigen Spirale, die den Kosmos bestimmt und in uns allen wohnt. Verlaß dich auf dieser Reise nicht nur auf das, was die Priesterinnen dir beibringen, höre auch auf dich selbst! Du bist anders als der Rest der Mysten, vergiß das nicht! Du bist ein Kind der Heiligen Hochzeit – ein Sohn der Göttin!«
»Ich denke, du leugnest Ihre Existenz? Hast du mir das nicht erst neulich erklärt?«
»Ich wollte deinen Glauben nicht angreifen«, erwiderte Ikaros nachdrücklich, »sondern dir dabei helfen, das Wesen des Göttlichen zu ergründen. Aber du wirst das ohnehin auf deine Weise tun und brauchst meine Ratschläge gar nicht.«
»O doch«, widersprach Asterios. »Ich brauche dich, mein Freund! Es tut gut, mit jemanden
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