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Palast der blauen Delphine

Titel: Palast der blauen Delphine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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zu reden, der so viel weiß wie du und ganz andere Ansichten hat.«
    Nachdem sie das Gebirge hinter sich gelassen hatten, erreichten sie schon bald die gepflasterte Prozessionsstraße, die nach Knossos führte. Aus der Entfernung waren die Umrisse des großen Palastes zu erkennen, der zwischen bewaldeten Hügeln in der fruchtbaren Mündungsebene des Kairathos lag. Die Fassaden der fünf Stockwerke waren in hellem Ocker gehalten und durch Fenster, vorspringende Terrassen und zahlreiche Loggias untergliedert. Steinerne Doppelhörner krönten die Firste.
    Erst beim Näherkommen erkannte Asterios das gewaltige Ausmaß dieses Bauwerks. Schier endlos mußten sich im Inneren Säle, Zimmer, Hallen, Vorratsräume, Gänge, Passagen und Lichthöfe aneinanderreihen! Von außen konnte er zum Teil überdachte Treppenaufgänge sehen, ein Wald von dunkelroten Säulen mit schwarzen Kapitellen. Der Bau mit seinen unzähligen Fenstern, die Asterios wie erwartungsvolle Augen auf sich gerichtet fühlte, erstreckte sich bis über den nächsten Hügel, und sein Südflügel reichte hart bis zu den Rändern einer Schlucht.
    »Das Labyrinth!« entfuhr es ihm, und er fühlte sich angesichts dieser in Stein gehauenen Macht klein und bedeutungslos.
    »Nein«, sagte Ikaros. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie überwältigt er selbst das erstemal vor dieser Anlage stehengeblieben war. Unwillkürlich mußte er lächeln. »Das ist der Palast der blauen Delphine.«
     
    Ihr Weg führte sie am äußeren Wächterhäuschen vorbei zum westlichen Propylon. Im überdachten Eingangsraum mußten sie ihre Namen nennen, bevor sie durch das hölzerne Flügeltor eingelassen wurden. Vor ihnen erstreckte sich ein enger Korridor, dessen Verlauf man nur erahnen konnte. Beiderseits in Kopfhöhe steckten in Halterungen brennende Fackeln. Ihr Licht war hell genug, um links und rechts das Wandgemälde zu erleuchten.
    Voller Bewunderung folgte Asterios einer schier endlosen Prozession von Gabenträgern. Die Männer trugen bunte Schurze, die von wulstigen Taillenbändern gehalten wurden; die Kleider der jungen Frauen waren so fein gemalt, daß sie beinahe durchsichtig wirkten. In ihren Händen hielten sie teils bauchige Krüge, teils schlanke Trichterrythen. Sie waren barfüßig dargestellt und schritten leichtfüßig zwischen Gräsern und Blumen. Über ihren Köpfen vermittelten wie hingetupfte Wölkchen die Stimmung eines heiteren Sommertages.
    Ikaros mahnte ihn sanft zum Weitergehen. Erst in der letzten Kehre, kurz bevor der Korridor wieder ins Freie mündete, blieb er noch einmal stehen. Und staunte.
    Vor einem glatt verputzten, dunkelroten Hintergrund hob sich die überlebensgroße Gestalt eines jungen Mannes ab. Bekleidet war er mit Lendenschurz und Wickelgemaschen. Um seinen Hals war eine Kette aus Lilienblüten geschlungen, und er trug eine Krone aus Lilien, die mit schimmernden Pfauenfedern verziert war. An der Linken führte er ein mattgelbes Fabelwesen mit Löwenkörper, Adlerkopf und Krallenfüßen, das seine Schwingen leicht geöffnet hatte.
    »Ikaros! Wer ist das?« flüsterte er erregt. »Der Mann? Das Tier? Wen stellt das Bild dar?«
    »Das ist der Priesterkönig mit der Greifin«, antwortete Ikaros. »Der Lilienprinz! Er werde erscheinen, wurde vor langer Zeit prophezeit, wenn Kreta in größter Gefahr ist und der Untergang der Insel droht.« Er bemühte sich um einen leichten Ton. »Wir werden uns also noch eine Weile gedulden müssen.«
    Asterios starrte noch immer auf die Wand. Der Lilienprinz! dachte er. Ich soll der Lilienprinz sein, der die Insel rettet!
    »Asterios?« Ikaros klang beunruhigt.
    »Es ist nichts«, sagte er schnell. »Verzeih, daß ich heute so abwesend bin.«
    Draußen, im letzten Schein der Abendsonne, schaute der Freund ihn prüfend an, hielt sich jedoch mit Kommentaren zurück. Asterios folgte ihm über zwei Innenhöfe und durch immer neue Korridore, bis sie durch eine Seitenpforte den Palast wieder verließen. Längst schon hatte er es aufgegeben, sich auf dem verwinkelten Weg noch zu orientieren.
    Ein kurzes Stück noch durch den Garten, dann waren sie am Ziel. Vor der Türe des Gästehauses ließ Ikaros ihn allein.
    Asterios betätigte die kupferne Löwenpfote und wartete. Die Türe öffnete sich. Vor ihm stand Merope.
    »Mutter!« rief er. »Du hier?«
    Statt einer Antwort breitete sie die Arme aus und drückte ihn an ihre Brust. Er roch ihren vertrauten Duft und konnte durch die Gewandfalten ihren knochigen Körper

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