Palast der blauen Delphine
ihm zum Klingen brachte?
Er schloß die Augen und tauchte in das blaue Licht ein.
Es ist Abend, und er steht auf einem der Hügel, zwischen denen Knossos liegt. Der Palast der blauen Delphine steht nicht mehr. Er liegt in Trümmern vor ihm, die Mauern sind in Steinhaufen verwandelt. Zerschlagene Teile der Doppelhörner, die so lange die Macht des Stiers verkündet haben, liegen überall herum. Scherben und Splitter, wohin er auch sieht, von schwarzer Asche bedeckt.
Er ist den Schwerthieben des Heros im Labyrinth entkommen. Er ist durch den heißen Ascheregen getaumelt, in dem Menschen und Tiere gestorben sind. Er lebt, aber die anderen sind tot. Er hat nur noch den Wunsch, denen zu folgen, die vor ihm gegangen sind.
Langsam entkleidet er sich bis auf den Schurz. Er läßt sich nieder auf der Erde und greift nach dem Sichelmesser, das bislang nur die Kehle des Opferlammes durchtrennt hat. Zum letzten Mal hebt er den Blick, um Abschied zu nehmen von dem, was einst der Palast gewesen ist.
Er fühlt eine leichte Berührung im Nacken, und fährt herum. Sie ist gekommen.
Weiße Strähnen durchziehen das Haar, das ihr wirr auf die Schultern fällt. Er sieht die scharfen Linien um ihren Mund und Brandspuren in ihrem Gewand. Die Frau, die vor ihm steht wie die Abgesandte einer anderen Welt, besitzt kaum noch Ähnlichkeit mit der eleganten Ägypterin, die ihn früher unterrichtet hat. An ihrer Hand führt sie ein kleines Mädchen, aschebedeckt, aber offensichtlich gesund.
Beide bleiben stumm, ohne ein Zeichen des Erkennens.
Ihre Augen aber sprechen zu ihm, dringen durch seine Verzweiflung und berühren sein Herz. Er taucht ein in ihren Blick und fühlt, wie mit aller Macht der Schmerz zurückkehrt, wie sich Tränen in seine Augen drängen …
Sachte berührten ihre Finger seine Wange und wischten die Tränen fort.
»Die Nacht ist vorbei, Asterios«, sagte Hatasu, löste die Skarabäusfibel von ihrem Umhang und ließ sie in die Glut gleiten.
»Aus den Hörnern der Mondbarke wird die Sonne geboren«, fügte Mirtho von hinten hinzu. Ihre Stimme klang sehr bewegt.
Beide Frauen, die alte und die junge, wandten sich nach Osten, um den Tag zu begrüßen.
Am Himmel zeigte sich ein helles Leuchten, das sich unaufhaltsam in kräftiges Orangerot verwandelte. Kaum eine Farbe, die sich nicht wie ein zarter Schleier schimmernd über den weiten Horizont spannte.
Dann verschmolzen Orange, Blau und Violett zu Gold, und das Licht kam.
Zweites Buch
Schwarze Segel
Strongyle
»Land in Sicht!« Die rauhe Stimme des Steuermanns riß Asterios aus seinen Gedanken. Lange hatte er an der Reling gelehnt und in die schäumenden Wellen gestarrt, nun schaute er auf.
Frischer Westwind, den die Seeleute lieben und fürchten, weil er zwar die Segel knattern läßt, aber auch die Wogen haushoch türmen kann, trieb den Gaulos rasch auf die runde Insel zu. Immer deutlicher konnte man die Buchten erkennen, in denen Dörfer lagen. Das Boot der Königin hielt sich westlich und nahm Kurs auf Akrotiri, die größte Hafenstadt an der Südküste Strongyles.
Asterios aber hatte nur Augen für den Vulkankegel. Jetzt sah der schwarze Berg friedlich aus, noch vor kurzem jedoch hatte er die Menschen, die hier lebten, in Angst und Schrecken versetzt. Stundenlang hatte die Erde gebebt, ein Strom aus flüssiger Lava war bis ins Meer hinunter geflossen und erst im Wasser erstarrt. Zurückgeblieben waren verbrannte Bäume und eine breite Schneise in einem Waldstück.
Der wahre Herr der Insel, dachte er, aus langem Schlaf erwacht, um sein Reich aus Glut und Asche zu errichten. Feuerspeiend kann er in Stunden vernichten, was in Jahrhunderten aufgebaut wurde.
Er reckte den Hals, um mehr von den Zerstörungen zu sehen, die der Vulkan angerichtet hatte. Der Hafen von Akrotiri wirkte von weitem unversehrt. Erst beim Näherkommen entdeckte er an einigen Häusern Brandspuren. Außerdem war der größte Teil der Flutmauer, die das Hafenbecken vor Winterstürmen schützte, in einen Steinhaufen verwandelt.
»Da liegt der Übeltäter friedlich in der Abendsonne, als wäre nichts geschehen!« polterte Iassos neben ihm los.
Der Parfumhändler hatte sich auf eigenen Wunsch der Fahrt angeschlossen. Asterios reiste in seiner neuen Funktion als geweihter Diener der Großen Mutter; Ikaros begleitete ihn. Der Ausbruch hatte Tempel und Heiligtum der Insel schwer getroffen. Asterios sollte sich mit eigenen Augen vom Ausmaß des Schadens überzeugen und mit den hiesigen
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