Palast der Suende - Roman
immer noch.
Ihr war, als müßte sie den Atem des gequälten Acteon im Gesicht spüren.
»Ich verstehe, daß er die Farben nicht dem Licht aussetzen will«, murmelte sie. »Es wäre eine Schande, wenn sie verblichen.«
Der Rest des Ballsaals war nicht viel weniger beeindruckend. Die Wände waren in einem zarten Himmelblau angestrichen, und eine üppige Stuckborde, um die sich Reben und Feigenblätter rankten, lief über alle vier Wände. Von der Decke hingen zwei Kristalleuchter, in denen sich die Sonnenstrahlen fingen und die kleine Regenbogen auf die Wände und auf den honigfarbenen Parkettboden warfen.
»Nun, was meinst du?« fragte Stuart.
»Es ist wunderschön. Beinahe perfekt für die Session. Es wäre nur besser gewesen, das Gemälde an der Wand zu haben, statt an der Decke.«
Er hob eine Augenbraue.
Sie lachte nervös. »Es tut mir leid. Es ist wirklich ein wunderschönes Bild.«
»Willst du dir die anderen Zimmer noch ansehen, nur für den Fall?«
Sie hätte ihre Neugier kaum bezwingen können, deshalb nickte sie rasch.
Sie wartete, bis Stuart die Läden wieder geschlossen hatte. Sie bemerkte, wie förmlich er sich gab, und hob ihr Kinn. Wenn er stur war, konnte sie auch stur sein.
Er führte sie aus dem Ballsaal, und sie beschloß, nicht mehr so offen ihre Begeisterung zu zeigen.
Aber ihr Beschluß schmolz gleich wieder, denn der Palazzo Giardino war ein Ort der verführerischen Schönheit und Eleganz, und sie spürte, wie die Sinnlichkeit der einzelnen Räume ihre Wirkung auf sie nicht verfehlte. Sie seufzte ihre Bewunderung heraus.
In keinem Zimmer war an der Einrichtung gespart worden, orientalische Läufer und Teppiche lagen auf Mosaiken, Marmor und poliertem Holz. Das Mobiliar stammte hauptsächlich aus der Zeit des Louis Quinze, obwohl sie auch ein paar Art Deco-Stücke erkannte. Die meisten Wände brauchten keine Aufwertung, aber die wenigen Gemälde, die aufgehängt waren, erfüllten den höchsten Anspruch. Sie erkannte einen Canaletto, einen Picasso und zwei Velasquez, und sie fragte sich, ob Stuart auch die Bilder für Vittorio gefunden hatte. Wenn ja, wunderte es sie nicht, daß er sich Versace erlauben konnte.
Aber je mehr Räume sie gesehen hatte, desto deutlicher wurde ihr, daß irgend etwas fehlte, so schön der Palast auch war Es war kein Zuhause. Es gab keine Spuren des alltäglichen Lebens: Keinen Fernseher, keine
Tiere, keine Bücher – mal abgesehen von den alten Ausgaben in der Bibliothek.
»Und du sagst, daß Vittorio hier wohnt?«
Stuart wußte sofort, worauf sie hinaus wollte. »Er bewohnt das, was früher der Dienstbotenflügel genannt wurde. Dort entlang.« Er wies auf eine gepolsterte Tür, dann öffnete er eine, die rechts davon lag. »Dies ist das letzte Zimmer des öffentlichen Teils.«
Claire trat ein. Das Zimmer war kleiner als die anderen, die sie bisher gesehen hatte. Die Wände und der Diwan waren in dem gleichen Brombeerton gehalten wie die Kabine des Motorboots. Sie mußte lächeln. Offenbar wurde Vittorio gelegentlich von seinem erlesenen Geschmack verlassen.
Es gab ein hohes, schmales Fenster in dem Zimmer, dessen Läden geschlossen waren. An der gegenüberliegenden Wand glitzerten zwei mannshohe venezianische Spiegel. Claire schaute zur Decke und sah, daß sie auch verspiegelt war, er hatte dazu antikes dunkles Glas benutzt, in dem ihre aus diesem Blickwinkel gedrungene Gestalt gespiegelt wurde.
Warum zeigte ihr Stuart dieses Zimmer? Für die Foto session war es viel zu klein. Claire vermutete, daß das Zimmer in der Nähe des Balkons liegen mußte, auf dem sie den Kaffee getrunken hatten, und sie ging zum Fenster, um festzustellen, ob sie richtig geschätzt hatte.
Das Bild, das sich ihr unten bot, war ihr sofort vertraut: Es war ein kleiner campo mit einem Zeitungsstand. In der Gosse schnüffelte ein schwarzweißer Hund. Es fiel ihr wie Schuppen von den Augen: Der Palazzo Giardino war der Palast, den sie an ihrem ersten Tag in Venedig bewundert hatte, als sie Sex mit dem italienischen
Arbeiter gehabt hatte. Weil der Eingang auf der anderen Seite des Gebäudes lag, hatte sie den Palast bei ihrer Ankunft nicht wiedererkannt. Sie spürte, wie sie rot wurde.
»Kann ich dich etwas fragen?« sagte Stuart. Er hatte sich neben sie gestellt.
»Natürlich.«
»Wenn nicht deine Notlage eingetreten wäre, hättest du mich dann auch angerufen?«
Sie wich seinem Blick aus. »Ich weiß es nicht.«
»Du hättest es nicht getan, nicht wahr?« Das Schweigen
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