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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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Ein trauriger Regen fiel, Schmetterling hielt den Dolch umklammert, Storch
drang mutig in seiner Rüstung, die am Rücken weiß von Mehl bestäubt war, mit
der Lampe in der Hand ins Innere des Gebäudes. Diese Buchmalermeister, deren
Schatten geisterhaft über die Wände huschten, waren meine Brüder, und wie sehr
liebte ich sie! Ich war glücklich, ein Illustrator zu sein.
    »Weißt du wirklich das Glück zu
schätzen, tagelang neben Meister Osman zu sitzen und die Wunderwerke der alten
Meister zu betrachten?« fragte ich Kara. »Hat er dich geküßt? Hat er dein
schönes Gesicht gestreichelt, deine Hand gehalten? Hast du seine
Kunstfertigkeit, sein Wissen bewundert?«
    »Altmeister Osman hat mir dort unter
den Wunderwerken der alten Meister gezeigt, daß du einen Stil hast«, sagte
Kara. »Er lehrte mich, daß der Stil keine Sache ist, die der Illustrator
gewollt annimmt, sondern daß dieser heimliche Fehler durch die Vergangenheit
und die vergessenen Erinnerungen des Illustrators bestimmt wird. Er wies mich
auch darauf hin, daß diese heimlichen Fehler, Schwächen und Blößen, für die wir
uns einst schämten, die wir zu verbergen suchten, damit man uns nicht von den
alten Meistern trennte, von nun an als ›persönliches Merkmal‹, als
›Stil‹ gelten und lobend hervorgehoben werden, weil sich die Methoden der
fränkischen Meister in der ganzen Welt verbreitet haben. Und wegen der Toren,
die sich ihrer Fehler rühmen, wird von nun an die Welt farbiger, aber auch
törichter sein – und natürlich weitaus fehlerhafter.«
    Die stolze Überzeugung, mit der Kara
sprach, zeigte, daß er einer dieser neuen Toren war.
    »Konnte Altmeister Osman erklären,
warum ich für die Bücher unseres Padischahs viele Jahre lang bei Hunderten von
Pferden die Nüstern wie üblich gezeichnet habe?« wollte ich wissen.
    »Durch die Liebe und die Schläge,
die er euch seit euren Kindertagen hat angedeihen lassen, und weil er sowohl
euer Vater als auch euer Geliebter ist, kann auch er nicht ermessen, wie sehr
ihr alle ihm und euch untereinander ähnlich seid. Nicht ihr solltet einen Stil
besitzen, sondern die osmanische Buchmalerwerkstatt, das wollte er. Und weil
ihr voller Bewunderung in seinem Schatten steht, habt ihr die verinnerlichten
Fehler, die Abweichungen und das, was nicht der Regel entspricht, vergessen.
Doch als du für andere Bücher, auf anderen Blättern gezeichnet hast, die
Meister Osman nicht zu Gesicht bekommen würde, da ist das jahrelang in dir
ruhende Pferd zum Vorschein gekommen.«
    »Meine selige Mutter war ein viel
klügerer Mensch als mein Vater«, sagte ich. »Als ich eines Abends zu Hause
weinend erklärte, ich würde nie wieder zur Buchmalerwerkstatt zurückkehren,
weil ich nicht nur von den Prügeln Meister Osmans genug hätte, sondern auch
von denen der anderen harten, ungeduldigen Meister und von den Schlägen mit den
Linealen, mit denen uns der Abteilungsvorsteher zur Vernunft bringen wollte,
erklärte sie mir, es gebe zwei Arten von Menschen auf der Welt: Einmal jene,
die unter den Prügeln in ihrer Kindheit kuschten und sich beugten. Sie würden
immer gebeugt bleiben, sagte meine selige Mutter, weil die Prügel wie gewollt
den Teufel in ihrem Innern abtöteten. Die Glücklichen aber seien die anderen,
in denen der Teufel durch die Prügel nicht getötet, sondern eingeschüchtert und
gezähmt werde. Auch sie vergessen niemals die bösen Erinnerungen ihrer
Kinderzeit, doch da sie gelernt haben, mit dem Teufel umzugehen (sag's keinem
weiter, warnte Mutter!), gelingt es ihnen eher, schlau zu sein, Unbekanntes zu
erkennen, Freunde zu erwerben, Feinde zu entlarven, Intrigen hinter ihrem
Rücken rechtzeitig aufzuspüren und, so füge ich hinzu, besser als jeder andere
zu malen. Wenn Meister Osman meinte, ich hätte die Zweige eines Baumes nicht im
rechten Gleichmaß gezeichnet, versetzte er mir eine solche Ohrfeige, daß ich
einen Wald vor Augen sah, während mir bittere Tränen herunterliefen. Doch hatte
er gesagt: ›Siehst du nicht den Fehler am Ende der Seite?‹ und mir zornig
eine Kopfnuß gegeben, nahm er gleich darauf gerührt den Spiegel zur Hand,
hielt ihn über die Seite und zeigte mir, Wange an Wange, jeden einzelnen der
plötzlich im seitenverkehrten Spiegelbild erkennbaren Fehler mit so viel
Liebe, daß ich weder die Liebe noch die gebräuchliche Form vergessen habe. Nach
einer im Bett durchweinten Nacht, weil er mich am Tag zuvor vor allen anderen
getadelt, mit dem Lineal auf den Arm

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