Panik: Thriller (German Edition)
Glühwürmchen durch die Nacht. Sie öffnete die freie Hand und fing eines auf, ein Stück verkohltes rosa Leder, das auf ihrer Handfläche aufflammte und verlosch. Ein weiterer Fetzen folgte, diesmal in fluoreszierendem Orange. Wie die Handschuhe des Mannes, diese fingerlosen Handschuhe um Schillers Hals. Nach ein paar Sekunden wurde das Stoffstück wieder aufgewirbelt und verschwand in der Nacht.
Ja, das hier war etwas ganz anderes.
Sie hob Schiller hoch und ging los. Schritt für Schritt schleppte sie den leblosen Körper mit sich. Er war unglaublich kalt. Als würde sie durch einen Schneesturm stapfen. Gegen diese Krankheit halfen keine Verbände und keine Antibiotika. Schiller musste nicht ins Krankenhaus, er musste zu dem Ort in ihrem Kopf, diesem verlassenen Vergnügungspark namens Fursville.
Oder?
Sie schob alle Zweifel beiseite und vertraute ganz auf ihren Instinkt, und ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass sie richtig lag. Das Meer und der kleine Bootsanlegeplatz des Nachbardorfes waren ganz in der Nähe. Sie wusste, wie man die Motoren der alten Schlauchboote kurzschloss. Es war eine sternklare, windstille Nacht, sie konnten vor Sonnenaufgang dort sein– wo dort auch immer war. Rilke musste nur auf das Gefühl in ihrem Kopf hören. Es würde ihr wie ein Leuchtturm den Weg weisen.
Sie zitterte. Ihre Zähne klapperten so laut, dass sie schon Angst hatte, die Raver würden sie hören. Rilke stolperte durch den Schmutz und die Asche auf das Meer zu. Nach Fursville– dort würde es Antworten geben.
Brick
Fursville, 5 : 59 Uhr
Er erwachte ohne Albträume und mit einem leichten Muskelkater. Brick setzte sich auf, fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar und gähnte so laut, dass sein Kiefer knackte. Lichtstrahlen fielen durch die Lücken zwischen den Brettern vor den Fenstern auf Staubflocken und Daisy, die auf dem Sofa lag. Cal hatte sich auf dem Boden davor zusammengerollt. Beide schliefen noch tief und fest.
Was war letzte Nacht passiert? Sie hatten etwas– oder jemanden– gespürt. Dann war Daisy auf den Einfall gekommen, ihnen eine Botschaft zu schicken, ein geistiges Bild von Fursville. Letzte Nacht hatte das wie eine gute Idee geklungen. Dummerweise kehrten mit dem Tageslicht auch die Realität und der gesunde Menschenverstand zurück. Als Brick daran dachte, wie sie gestern Hand in Hand mitten im Restaurant gestanden und übersinnlichen Blödsinn durch Zeit und Raum geschickt hatten, wurde er puterrot.
Er ging auf die Tür zu und passte dabei auf, dass er nicht gegen einen Tisch oder Stuhl stieß. Sobald er den Flur erreicht hatte, rannte er los, an den vergilbten Speisekarten und Postern mit Sonderangeboten vorbei– Schellfisch oder Kabeljau für nur 30 Pennys Aufschlag! – und die Treppe ins Foyer hinunter. Hier war das Licht so hell, dass seine Augen brannten, und er war fast froh, als er den kleinen Korridor betrat, der zum Notausgang führte.
Bis er die Kellertreppe erreicht hatte.
Er blieb stehen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Wenn Lisa noch lebte– natürlich lebt sie noch, es ist gerade mal einen Tag her, und sie hat was zu essen und Wasser, und denk bloß nicht an ihre Verletzungen, bloß nicht –, dann konnte er nicht viel weiter gehen, ohne dass sie wieder austickte. Ohne dass sie die Wut bekam.
Er räusperte sich und rief ihren Namen. Aus seiner Kehle drang nur ein Seufzen, was Brick trotzdem viel zu laut vorkam, sie aber wahrscheinlich gar nicht hören konnte. Er sah sich nach links und rechts um und mochte sich gar nicht vorstellen, was geschehen würde, wenn sie ausgebrochen war und nun durch das Gebäude streifte. Schon sah er ihre Hände vor sich, wie sie sich aus den Schatten nach ihm ausstreckten, wie ihre rissigen Fingernägel sein Gesicht zerkratzten.
In der ölig schwarzen Dunkelheit am Fuße der Kellertreppe bewegte sich etwas. Er hörte ein schleifendes Poltern.
» Brick?« Bei ihrer schwachen Stimme wäre er fast in die Knie gegangen. Seine Augen brannten wieder, und Tränen strömten seine Wangen hinunter, bevor ihm überhaupt bewusst wurde, dass er weinte– Gott sei Dank, Gott sei Dank, sie lebt, ihr geht’s gut –, und er musste sich mit der Hand an der Wand abstützen. Vielleicht würde diese Berührung ja bis in den Keller hinunterwandern und ihre Wangen wärmen können. » Bitte lass mich raus«, sagte sie. Es klang, als hätte sie den Mund voller Bonbons, aber ihre Stimme war kräftiger als gestern. » Brick? Es ist noch nicht zu spät.«
» Schon
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