Papa
saß zurückgelehnt auf einem Stuhl. Sebastian Graf hatte den Kopf in seine Hände vergraben und schluchzte.
»Herr Graf«, begann die Fernseh-Kramme, »Ihre Arbeit mit unseren Patienten ist ein voller Erfolg. Warum, glauben Sie, haben Sie einen Rückfall erlitten?«
Graf zog die Nase hoch. Er wirkte wie ein kleiner Junge, der zum Direx zitiert wurde. »Ich kann nicht schlafen. Ich habe alles probiert, es funktioniert nicht.«
»Mit dem Problem …«
»Sie verstehen nicht«, schrie er mit einem Mal auf und riss den Kopf nach oben. »Ich habe Angst. Ich vergesse. Es wird immer schlimmer.« Er sank auf dem Stuhl zusammen. »Was ist, wenn ich nicht mehr weiß, wer ich bin?«
»Nun, ich kann mir nicht vorstellen, wie das passieren soll, Herr Graf.«
Graf heulte auf. »Es passiert einfach so. Das versuche ich Ihnen doch zu erklären. Helfen Sie mir, ich will nicht vergessen. Ohne Gedächtnis bin ich doch nur noch eine leere Hülle. Es geht hier um meine Persönlichkeit.« Graf sprang schreiend auf und stürzte sich auf Kramme. »Helfen Sie mir, gottverdammt!«
Hier endete das Video.
»Sebastian Graf«, erzählte Claudia Kramme, »leidet an einer Empathiestörung. Vor dieser Sitzung eben hatte er viel Zeit mit einem Alzheimerpatienten verbracht, und nun bekam er Angst, selbst daran zu erkranken. Das ging so weit, dass er davon überzeugt war, selbst dieser Alzheimerpatient zu sein. Mit allen Symptomen.
Er ist wie ein Schauspieler, der einen Charakter in sich aufsaugt und die Rolle nicht mehr ablegen kann.«
Robert war erstaunt. »So etwas gibt es?«
»Nein, Herr Bendlin, so etwas gibt es nicht. Sebastian Graf ist ein Kind reicher Eltern. Er musste nie arbeiten und hatte zu viel Zeit. Für ihn war es ein Spiel, sich wichtig zu machen.«
»Sie haben ihn dennoch therapiert?«
»Ja.«
»Natürlich, weil er in der Klinik umsonst Kunstunterricht erteilt hat.«
Kramme sagte nichts. Sie schaute Robert nur an.
»Und weil er für die Therapiestunden bezahlt hat.« Gäter winkte mit ein paar Belegen, die sie zurück in die Kiste legte.
Kramme seufzte. »Solche Aussetzer hatte Sebastian Graf immer wieder mal«, die Anstaltsleiterin ging zum Fenster und starrte hinaus. »Es war reine Spinnerei.«
Kramme presste die Lippen zusammen. Robert schnaufte und hob die flache Hand.
»Lass sie«, sagte Gäter und wedelte mit einer Akte. »Das hier dürfte viel interessanter sein.«
»Das wird ein Nachspiel für Sie haben.« Robert ließ Kramme los, die auf ihren Stuhl sank und weinte. »Was hast du gefunden?«
»Sebastians Akte. Hier wird hoffentlich drinstehen, was wir suchen.«
Robert kniete sich zu ihr. Gäter schlug die Mappe auf, und die beiden begannen zu lesen. Die ersten Seiten zeichneten tatsächlich das Bild eines Hypochonders. Sebastian hatte sich immer wieder selbst eingewiesen. Meist wegen Lappalien.
Offenbar brachte er der Klinik ein nettes Zusatzgeschäft ein. Er bezahlte seinen Aufenthalt aus eigener Tasche und wurde dafür therapiert. So weit nichts Wildes.
Er war verschroben, auf eine skurrile, aber nette Art und Weise. Der restliche Artikel unterstützte weitestgehendst Krammes These
Gäter zog einen Zettel aus einer Mappe und winkte damit. »Der hier ist da aber ganz anderer Meinung.« Sie reichte ihn Robert, der ihn überflog.
Im Gespräch mit Sebastian Graf stellte sich heraus, dass er einen Menschen nicht als Ganzes betrachtet, sondern ihn quantisiert. Er reduziert ihn auf wenige, maßgebliche Charaktereigenschaften.
Gleiches ist häufig bei Pubertierenden zu beobachten, die noch in der Findungsphase sind. Sie eifern Personen nach, die sie in ihrer Vorstellung hochstilisieren. Bei Jugendlichen sind das meist
einfache
Persönlichkeiten, die im Rampenlicht stehen. Sie selbst leiden dabei an einem Minderwertigkeitskomplex.
Herr Graf, da erwachsen, konzentriert sich auf eine andere Gruppe von Menschen. Der Wunsch in ihm, etwas Besonderes zu sein, ist krankhaft und sollte in zukünftigen Sitzungen tiefergehend behandelt werden.
Bisherige Gespräche deuten auf eine äußerst behütete Kindheit hin. So hat er es nie gelernt, anzuecken oder sein Tun in Frage zu stellen.
Bei Pubertierenden legt sich der Wunsch, jemand anderes zu sein, mit der Zeit. Doch bei Herrn Graf ist er stark in der Persönlichkeit verankert. Er war nie gezwungen, sich für einen bestimmten Lebensweg zu entscheiden.
Aus jetziger Sicht ist er wie ein Heranwachsender zu betrachten, der sich selbst als unzulänglich sieht. Eine
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