Paranoia - Hoer Auf Ihre Stimme
nicht, sondern machte sich Gedanken über Vincents Anrufe. Konnte es sein … Musste er die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass er die Anrufe … – er vermochte sich kaum zu überwinden, den Gedanken zu Ende zu denken – … dass er die Anrufe gar nicht erhalten hatte?
Konnte es sein, dass sie nichts weiter waren als das Mittel einer gequälten Seele, die Wahrheit herauszufiltern?
Telefonanrufe in seinem Kopf. Anrufe von Toten. Wie viel an diesem Tag, an diesem Jahrestag, war ein Produkt seiner Phantasie? Jane X, die seinen Namen sagte und Abby so ähnlich sah, dass es schon unheimlich war. Die gehetzten braunen Augen, die Gesichtszüge, die sich verschoben und verformten – und von denen er wusste, dass sie immerhin zum Teil nichts als Einbildung waren. Warum also alles Übrige nicht auch?
Unter alldem, in den Tiefen seines Geistes, wo die Dunkelheit herrschte, wo das wilde Tier hockte, lauerte, wartete … Vielleicht lag dort die Wahrheit. Vielleicht kannte er sie längst, die wirkliche Erklärung.
Dass er Sue Carmody getötet hatte.
Dass er Abby getötet hatte.
Und wer weiß, vor all den Jahren, damals auf dem College, nachdem Anna Marie Colson ihn verließ, ihn wegen eines Jurastudenten zurückwies, ausgerechnet wegen eines Jurastudenten – vielleicht hatte er auch sie getötet. Vielleicht hatte er sie und ihren neuen Freund einfach auf offener Straße erschossen. Tolan stutzte.
Er wusste nicht mehr, wann er das letzte Mal an Anna Marie gedacht hatte, warum also tauchte sie plötzlich in seiner Erinnerung auf? Ein weiteres Bild erschien vor seinem geistigen Auge. Diesmal kein Messer, sondern eine Stiftlampe, die ihn blendete. Etwas, das ihm in den Mund geschoben wurde. Ein Beißgummi?
Er erinnerte sich, wie sehr sein Kiefer geschmerzt hatte, nachdem er aufgewacht war. Was sollte das?
»Vorsicht«, sagte Lisa. »Du bist fast mit ihrem Kopf angestoßen.«
Ihre Stimme holte Tolan zurück in die Gegenwart. Sie hatten die unterste Treppenstufe erreicht.
»Wir tragen sie durch die Seitentür hinaus«, sagte Lisa.
Sie schleppten sie durch den Wohnraum in die Küche und legten sie auf den Fußboden.
»Wo steht ihr Auto?«, fragte Lisa.
»Weiß ich nicht.«
»Ist sie mit dir hergekommen? Dein Wagen steht in der Garage.«
»Ich weiß es nicht«, sagte Tolan. »Seit ich die Klinik verlassen habe, kann ich mich an nichts mehr erinnern.«
»Wir lassen deinen Wagen lieber stehen. Die Polizei wird danach suchen.« Lisa ging zurück ins Wohnzimmer. »Zieh dich um, und in fünf Minuten treffen wir uns hier.«
Tolan sah hinab auf das Blut an seinem Hemd, dann richtete er den Blick auf Carmodys Leiche. Er wünschte sich auf einen weit entfernten Planeten.
Beam mich rauf, Scotty.
Die Seitentür führte von der Küche aus in einen kleinen, geschützten Hof. Unterhalb verlief ein schmaler Durchgang zwischen Lisas Haus und dem ihres Nachbarn. Er war nur zeitweilig hier, und zu dieser Jahreszeit eher selten. So lag der Durchgang verlassen und dunkel da. Die Straßenlaternen vor dem Haus gingen lediglich an, wenn ein Auto vorbeifuhr.
Es bestand also kaum die Gefahr, hier von jemandem gesehen zu werden. Wenn sie vorsichtig waren und den richtigen Moment abpassten, würde niemand erfahren, dass Sue Carmody jemals hier gewesen war.
Niemand außer Tolan. Und Lisa. Und Vincent?
Nein, dachte Tolan. Nicht einmal Vincent.
47
Blackburn wartete in seinem Wagen, als das Einsatzfahrzeug hinter ihm anhielt. Einen Augenblick später stiegen Kat Pendergast und ihr Partner Brett Hogan aus. Kat beugte sich zum Fenster von Blackburns Wagen hinab und sah ihn fragend an.
»Was ist denn mit deinem Kopf passiert?«
Blackburn ertappte sich dabei, dass er automatisch das Schmetterlingspflaster betastete. Er hatte es fast schon vergessen.
»Eine Lektion darin, wie man mit einer bewaffneten Verdächtigen falsch umgeht«, sagte er. »Das muss ich dir später genauer erzählen.«
Sie nickte und wies auf die Häuserreihe entlang der Straße. Sie befanden sich in einer Sackgasse im Zentrum von Bryant Park, einem Viertel der gehobenen Mittelklasse. »Welches ist Tolans Haus?«
Blackburn zeigte auf ein kleines Gebäude in einer Kurve. Laut De Mello hatte Tolan hier sechs Jahre lang gewohnt, davon vier zusammen mit seiner Frau. In der Einfahrt stand kein Wagen. Im Haus brannte kein Licht.
»Bist du sicher, dass er sich nicht da drinnen versteckt?«, fragte Kat.
»Bist du sicher, dass er nicht bei seiner Freundin war?«
Sie
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