Paranoia - Hoer Auf Ihre Stimme
unter Schock und überließ Lisa die Führung. Immer wieder wunderte er sich über ihre Kaltblütigkeit, doch er war auch dankbar, dass sie bereit war, ein solches Risiko für ihn auf sich zu nehmen.
Aber wie schaffte sie das nur? Wie konnte sie einem Monster gegenüber loyal bleiben? Denn wenn er das wirklich getan hatte, wenn er Carmody abgeschlachtet hatte, dann war er genau das: ein Monster.
Abermals stieg ein Bild wie aus einem Traum in seinem Gedächtnis auf. Abby, die vor einem dunklen Eingang stand.
»Wo bringen wir sie hin?«, fragte er.
»Zur alten Klinik.«
»Zur alten Klinik? Wir können sie doch nicht einfach dort abladen.«
»Wir haben wohl kaum eine andere Wahl.«
»Aber –«
»Niemand geht noch dort hinauf, Michael. Außerdem gibt es da genug Möglichkeiten, eine Leiche verschwinden zu lassen.«
Er sah sie an, sah ihren entschlossenen Gesichtsausdruck, ihren undurchdringlichen Blick. Das alles ging über das übliche Maß an Konzentration hinaus. Es ging tiefer. Wirkte kaltblütiger.
»Warum tust du das, Lisa? Wie kannst du es überhaupt ertragen, mit mir im selben Wagen zu sitzen?«
»Ich habe dir schon gesagt, warum.«
»Nein, hier geht es um weit mehr. Du glaubst, ich habe sie getötet. Wahrscheinlich denkst du, ich hätte auch Abby umgebracht.«
Sie bogen auf den Baycliff Drive ab. Lisa sah Tolan an. »Es spielt keine Rolle, Michael. Hast du das immer noch nicht verstanden? Ich liebe dich. Ich habe dich immer geliebt. Du bist meine verlorene Seele.«
»Deine was?«
Sie schüttelte den Kopf. »Wenn du es nicht verstanden hast, ist es sinnlos, es zu erklären.«
»Nein«, beharrte Tolan. »Sag es mir. Was meinst du damit?«
»Der alte Mann hat so etwas gesagt. Dass ich aussehe, wie eine Frau auf der Suche nach einer verlorenen Seele. Ich glaube, so ist es. Meinst du nicht?«
Ein weiteres Traumbild überfiel Tolan. Abby, die auf den Auslöser ihrer Kamera drückte. Ein Blitz.
Frag den alten Mann, Michael. Er weiß es.
»Von wem sprichst du? Welcher alte Mann?«
»Die Polizei hat ihn heute eingeliefert. Was er über deine neue Freundin erzählt hat, klang recht interessant.«
»Meine was?«
Lisa seufzte. »Jane X, Michael, die Unbekannte. Der alte Mann glaubt allerdings, dass sie in Wahrheit nicht unbekannt ist. Jedenfalls nicht mehr. Aber ich vermute, das weißt du längst.«
Tolan suchte nach einer passenden Antwort, doch ihm fiel keine ein. Seine Gedanken überschlugen sich.
Lisa wies ihm den Weg. »Nimm die Zufahrtsstraße.«
»Lisa …«
»Bieg ab!«
Er tat, was sie verlangte, und lenkte den Wagen auf eine schmale Straße, die sich durch die Berge hinauf zum alten Klinikgebäude schlängelte. Er wartete, bis sich Lisa gesammelt hatte, um ihm zu erklären, was sie meinte. Einen Moment später sprach sie weiter. »Erinnerst du dich daran, dass Abby immer gesagt hat, ›Sei vorsichtig, der Rhythmus wird dich holen‹?«
Tolan nickte. »Ja, warum?«
»Ich dachte, sie hätte das aus diesem Lied. Das war auch so, aber sie meinte damit etwas anderes. Sie verstand es als eine Warnung.«
»Aber das hat sie doch nur so gesagt. Ich habe mir nie großartig Gedanken darüber gemacht.«
»Ich auch nicht – bis heute, als der alte Mann davon erzählte.«
»Wovon? Von dem Lied?«
»Nein, Michael, hör doch besser zu! Von dem Rhythmus. Die Art des Rhythmus.« Sie schwieg einen Moment lang. »Abby kam aus Louisiana, genau wie er.«
Das ist die Art, Michael. Der Rhythmus. Der Herzschlag.
»Vielleicht solltest du von vorn anfangen und mir erzählen, wer dieser alte Mann überhaupt ist.«
»Erst musst du mir etwas sagen.«
Er wartete.
»Warum hast du heute die Klinik verlassen? Warum bist du einfach verschwunden, ohne ein Wort zu sagen?«
Tolan zögerte. Er dachte daran, was er in der Zelle von Jane X gesehen und gehört hatte. Noch am Morgen hatte er Blackburn für seinen unsensiblen Umgang mit Bezeichnungen zurechtgewiesen, doch es gab keinen anderen Ausdruck, um zu beschreiben, was er durchgemacht hatte.
»Du wirst mich für durchgeknallt halten.«
»Ich glaube nicht«, sagte sie. »Beantworte einfach meine Frage. Sag mir, warum du wegwolltest.«
Er zögerte abermals und fragte sich, wie viel er ihr erzählen sollte. Doch was hatte er noch zu verlieren? Viel schlimmer konnte es nicht mehr kommen.
Also erzählte er ihr die ganze Geschichte, von Beginn an. Von seinem Blackout an jenem Abend, als Abby starb, dem erneuten Filmriss heute, kurz bevor er Carmody unter der
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