Parasiten
ganzen Körper. Langsam
dämmerte ihr die Wahrheit.
»Von über hunderttausend jungen Frauen und Kindern, die jährlich aus
Osteuropa in den Goldenen Westen verschleppt werden«, sagte Sofia tonlos. Aus
ihr war alle Kraft gewichen. »In die Prostitution.«
Ileana schrie entsetzt auf. Radu drückte sie fest an sich und versuchte,
sie zu beruhigen. Sie schlug nach ihm. Er ließ es zu, damit sie ihre
Verzweiflung loswerden konnte. Wie er die seine loswerden würde, wusste er
nicht. Er wollte töten.
»Wer hat das getan?«, wollte er von Vadim wissen.
»Das kann ich euch nicht sagen«, antwortete Vadim. Er senkte seinen
Blick.
»Waren es deine Leute?«, fragte Sofia.
»Es ist besser für alle, wenn ihr das nicht wisst.«
Sofia packte Vadim am Arm und krallte ihre Hand hinein: »Wo ist Alina
jetzt? Kannst du etwas tun, damit man sie uns zurückgibt?«
»Ich werde alles versuchen. Aber versprechen kann ich nichts.«
Vadim blickte auf den Blaubeerkuchen, als läge in ihm Hoffnung oder
Trost. Er würde keinen Bissen davon essen können.
Sofia erhob sich vom Tisch. »Kümmere dich um Mama«, sagte sie zu
ihrem Vater. »Ich gehe mit Vadim raus eine rauchen.«
Radu nickte, obwohl er genau wusste, dass Sofia nicht rauchte.
Sofia begleitete Vadim in den engen Hinterhof, wo die Mutter mit ein
paar Blumenkübeln ein Idyll hinzuzaubern suchte, das über den brüchigen
Asphalt, die offenliegenden Abflussrohre und die Besuche der Ratten
hinwegtäuschen sollte.
»Sag mir, was los ist. Wie sicher bist du, dass Alina bei der … der
Ladung dabei war?«
»Ganz sicher.« Vadim rauchte in hastigen, gierigen Zügen. »Ein
Mädchen aus dem ›Black Elephant‹, die Beschreibung passt eindeutig auf Alina.«
»Hast du das von deinem Boss?«
Vadim schnippte die nur halb gerauchte Zigarette über die Mauer in
den Hinterhof der Nachbarn und schwieg.
»Vadim. Bitte!«
»Mein Boss macht viele Geschäfte. Es gibt Untergruppen, die für die
einzelnen Zweige verantwortlich sind. Diese Untergruppen werden von Unterbossen
angeführt. Früher hießen die Revierfürsten. Heute werden sie Manager genannt.
Du musst dir das Ganze wie eine große Firma mit jeder Menge Hierarchiestufen
vorstellen. Außerdem gibt es konkurrierende Unternehmen, die in der gleichen
Branche tätig sind.«
»Wer hat Alina? Deine Firma oder die Konkurrenz?«
»Was nützt es dir, das zu wissen?«
»Sag es mir!«
»Meine Leute.« Vadim war deutlich anzusehen, wie elend er sich dabei
fühlte.
»Was kannst du tun?«
»Nicht viel. Ich bin ein kleines Licht, das habe ich euch schon
gesagt!«
»Was?«
»Vielleicht können wir sie zurückkaufen. Wie viel Geld habt ihr?«
»Meine Eltern haben nichts. Sie leben von meinen Gagen. Und ich lebe
von meinem Gehalt als Hochschullehrerin. Das klingt besser, als es ist, glaub
mir. Da bleibt nicht viel übrig. Wieviel brauchen wir?«
»Fünfzigtausend. Mit viel Glück nur fünfundvierzig.«
»Lei?«
Vadim lachte bitter auf. »Bist du verrückt? Mit unserer Währung
kannst du dir den Arsch abwischen! Euro! Kannst du die besorgen? Ich könnte
etwa fünf locker machen.«
Sofia ging Freunde durch, von denen sie sich eine größere Summe
würde leihen können. Da war niemand. Auch die Bank würde ihr vermutlich nicht
genug geben. Und sie besaß keinerlei Wertgegenstände, die sie verkaufen könnte.
Nicht mal die Geige gehörte ihr. Die war eine Dauerleihgabe von einem Mäzen.
Sofia dachte an einen reichen Bremer, der zu all ihren Konzerten kam und ihr
schon mehr als ein Mal deutliche Avancen gemacht hatte. Wenn sie ihn nach dem
Geld fragte, würde sie mit ihm schlafen müssen. Bitter lachte sie auf. Sie
würde es tun. Sich prostituieren, um ihre kleine Schwester vor der Prostitution
zu retten.
»Ist dein Boss der Oberboss oder ein Unterboss?«
»Ganz oben.«
»Ich will mit ihm reden«, sagte sie.
»Das geht nicht.«
»Ruf ihn an.«
»Das geht nicht! Der reißt mir den Kopf ab!«
»Sag ihm, die heiße Braut, die kürzlich mit dir in der Bar war, will
ihm Geld bringen.«
Vadim sah sie erstaunt an. »Du bist verrückt. Total verrückt.« Dann
griff er nach seinem Handy.
Christian saß neben Maxym Savchenko in einer Maschine der
Air Moldova und sprach stumm eine Art Gebet: Liebe Götter der Natur, die ihr
den Menschen zum Laufen und Klettern und Schwimmen gemacht habt. Verzeiht mir,
dass ich mich schon wieder in die Lüfte begeben habe und damit dem göttlichen
Plan spotte. Lasst mich diesen beschissenen Flug überleben,
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