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Paravion

Paravion

Titel: Paravion
Autoren: bouazza
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die geronnene Blutnaht abzukratzen. Und während die Heulsuse, als solche das Mädchen den Bruder beschimpft hatte, sich mit den Fäusten die Augen trockenrieb, hatte das Mädchen den Kampf gegen die wehrhafte, dolchspitze Erde längst wiederaufgenommen. Die Jungen hatten das Nachsehen, als sie mit nackten Füßen davonflog, gezäumt vom Wind. Der Bruder aber verließ ebenfalls das Haus und schlug die Tür hinter sich zu. Ein paar Kinder jagten ein Mädchen, das einen kleinen Wirbelwind verursachte. Der Junge, Senunu natürlich, startete seine eigene Staubwolke und sauste hinter ihnen her.
    Doch die Mütter gaben nicht auf, obwohl der Kampf gegen ein versteinertes Jungenherz unmöglich zu gewinnen ist.
    Schwieriger ist für eine Mutter nur noch, den Sohn um die Essenszeit herum zu finden, wenn dieser sich in einem hohlen Baumstamm versteckt hielt, weil er gerade eine zweite, noch viel größere Demütigung erlitten hatte: Er war überholt worden, und zwar von einem Mädchen.
    Doch weil Drohungen auch jetzt nichts nutzten, ließ sie die Hand sinken. Eine andere Strategie mußte her, eine von Bestechen und Versprechen. Sie wurde allmählich ungeduldig, der Eselskarren konnte jeden Augenblick eintreffen, und sie mußte sich noch schminken. So versprach sie, ihm vom Basar etwas Süßes mitzubringen.
    »Zuckerwatte?«
    Nein, Zuckerwatte würde die Fahrt nicht überstehen.
    Der Postbote hatte nur einen einzigen Brief gebracht. Er war an alle sieben Frauen gerichtet, für Mamurra keinen, welche hin- und hergerissen war zwischen Beruhigtsein – schließlich hatte sie nichts anderes erwartet – und Betrübnis – sie hätte ja wider Erwarten eines Besseren belehrt werden können. Sie wand ihr Haar in einen Knoten, legte sich das Umschlagtuch um und ging zu Cheira und Heira.

    Die Frauen umdrängten den Postboten. Er las die Namen auf dem Umschlag vor und übergab ihn der ältesten Frau, die mit kokettem Augenaufschlag die Hand danach ausstreckte. Der Brief war aber gar nicht an sie adressiert, sondern an ihren Sohn. Lüstern betrachteten die Frauen den blau-weißen Aufkleber mit dem Paravion; diese beiden Farben bedeuteten ungeheuer viel, sie beinhalteten das ganze Wesen des neuen Landes, die Fingerabdrücke ihrer Männer, das glaubten sie jedenfalls. Den Umschlag aufzureißen wagten sie nicht. Der Postbote weigerte sich, den Brief vorzulesen, nicht aus Unwillen. »Viel Arbeit, kann nicht!« sagte er, als spräche er zu einem Ausländer, und deutete auf sein keuchendes Solex. Er erklärte sich jedoch bereit – »falls ich noch Zeit habe« –, für eine Transportmöglichkeit zu sorgen, die die Frauen zum Basar brachte, wo sie einen Schreiber finden konnten, der ihnen den Brief vorlas. Sie gaben ihm Wasser aus einer mit Teer bestrichenen Schale zu trinken, dazu ein Stück Brot, Oliven und Mandarinen als Belohnung für sein Versprechen, für seine Mühe und als Wegzehrung. Er verstaute den Proviant in den Satteltaschen seines Solex, bestieg das Gefährt, tippte gegen den Schirm seiner Mütze und schuckerte davon. Er watete durch die wabernde Fata Morgana.
    Die Frauen blickten einander an und wurden rot, die Herzen, an die sie den Umschlag abwechselnd preßten, flatterten. Es war ihr erster außerehelicher Kontakt, und er versetzte sie in amourös-heitere Stimmung. Einen Augenblick lang trugen sie wieder die Spatzenflügel der Jugend. Die Mütze des Postboten war nur noch blaßblau und so zerknittert, daß es aussah, als ob er sich öfter draufsetzte als sie aufsetzte. Liebend gern hätten die Frauen die Mütze für ihn gewaschen, notfalls hätten sie sich sogar drum geschlagen.
    »Ach, ich weiß jetzt, was ich dir mitbringe«, sagte die Mutter. »Laß dich überraschen!« Aber damit war es der kleine Bursche natürlich nicht zufrieden und schüttelte schmollmundig die Grannen seines dickköpfigen Schädels. Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr und eilte ins Schlafzimmer, um sich zu schminken und umzuziehen. Der Junge war plötzlich so aufgeregt, daß er hinterherrannte, um sich bei ihr, die schon vor dem Spiegel saß, zu vergewissern, ob er richtig verstanden habe. Als sie bejahte, stürzte er zu seiner Schwester, umarmte sie unbeholfen, küßte ihre Schillerlocken und streichelte ihr über den Rücken, als wäre sie ein Stachelschwein.
    Da schallte aus allen Häusern gleichzeitig ein »Mama!«, und zwar mit sehr langgedehnter zweiter Silbe und so heiser geschrien, daß diese Schreie ununterscheidbar in das Krächzen der aus den
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